Während eines Besuchs in Reggio im Mai 2008 schrieb Hildegard Wies einer Kollegin, was sie erlebte, dachte und der Daheimgebliebenen mitteilen wollte. Eine Art Reisedokumentation – mit Rückblicken auf die eigene Entwicklung.




Liebe Corrina,

Du fragst, welche Erfahrungen wir mit der Projektarbeit in unserer Kita gemacht haben. Dazu komme ich noch. Zuerst, wie versprochen, einige Informationen von Dr. Martini zum Brücken-Projekt aus dem Nido Albero Azzurro.

Während des Projekts schreiben die Erzieherinnen so viel wie möglich auf. Sie entdecken die Interessen der Kinder, die natürlich unterschiedlich sind. Wie sehen Brücken aus? Welche Brücken gibt es? Gehören Straßen und Brücken zusammen? Was ist unter einer Brücke? Man könnte sagen: Der Kontext des Brücken-Projekts ist die Gegend, in der die Kinder wohnen.
Während die Erzieherinnen die Kinder begleiten und ihr Lernen organisieren, erfahren sie, wie die Kinder denken, welche Materialien sie bevorzugen, was sie umsetzen wollen. Von Anfang sprechen die Erzieherinnen mit den Eltern über das Projekt, um Verständnis für die Lernprozesse der Kinder anzubahnen. Projektbegleitend entstehen die »Sprechenden Wände« – mit Fotos, Zeichnungen und anderen Werken der Kinder, mit ihren Dialogen über Brücken, die die Erzieherinnen notiert hatten –, auf denen die Eltern Hinweise finden, welche Fragen die Kinder beschäftigen.

Der nächste Schritt: Die Kinder zeichnen ihre eigenen Vorstellungen von einer Brücke, erklären einander die Zeichnungen und reichern so ihr Wissen über Brücken an. Dabei entstehen neue Hypothesen über Brücken, die notiert und damit überprüfbar werden.
In der nächsten Zeit bringen die Kinder Fotos von Brücken mit, arbeiten an ersten dreidimensionalen Brückenmodellen und nutzen die Materialien, die sie in der Kita vorfinden. Oft arbeiten kleine Gruppen parallel mit verschiedenen Materialien: Papier, Pappe, Ton und Draht.
Die Kinder sprechen miteinander über die Brückenmodelle und stellen dabei fest, dass sie unterschiedliche Vorstellungen haben. So verschieden die auch sind – Gedanken über Brücken verbinden sich miteinander.

Beim Besuch einer Fußgängerbrücke in der Umgebung der Kita machen die Kinder – jedes für sich – neue Erfahrungen: Sie schauen über das Geländer, legen sich auf die Brücke und blinzeln durch die Rillen der Holzdielen in die Tiefe. Sie betrachten und betasten das Material, aus dem die Brücke gebaut ist. Sie laufen unter die Brücke, schauen nach oben und zur Seite. Zur leibhaftigen Erfahrung und zum Nachdenken über die Brücke kommen Freude, Neugier und die Lust, sich mitzuteilen.

Die erste Frage der Erzieherinnen lautet: »Wie ist die Brücke gemacht?« Sie veranlasst die Kinder zu neuen Zeichnungen und Konstruktionen von Brücken.
Die Erzieherinnen wählen die Fragen sorgfältig aus, denn sie beeinflussen den Fortgang des Projekts: Was siehst du, wenn du auf der Brücke stehst? Was siehst du, wenn du unter der Brücke stehst? Was kannst du sehen, wenn du durch die Brücke hindurchschaust? Was ist unter der Brücke? Was ist über der Brücke?

Im nächsten Schritt werden die Brückenzeichnungen mit einem Overheadprojektor an die Wand projiziert, um neue Erfahrungen zu ermöglichen. Alles wird größer, die Dimensionen verändern sich. Die Kinder gehen in das Bild hinein, spazieren über die Brücke, fahren mit einem Auto im Bild herum und gelangen zu neuen Erkenntnissen. Neue Fragen tauchen auf, zum Beispiel: Wie steht eine Brücke?

Diese Frage führt die Kinder zu neuen technischen Problemen beim Brückenbau und interessiert sie genau zu dem Zeitpunkt, in dem sie auftaucht. Hier entsteht eindeutig eine Schnittstelle innerhalb des Forschungsprojektes. Solche Übergänge werden sorgfältig dokumentiert. Sie verweisen darauf, dass die Kinder ganzheitliche Erfahrungen machen können und unterschiedliche Standpunkte einnehmen.

Kind: »Es ist sehr schwierig, eine Brücke stehen zu lassen.«
Die Erzieherin gibt diese Aussage an alle Kinder weiter.
Die Kinder erklären: »Wir brauchen etwas Starkes!«
Sie kehren zu ihren ersten Bildern zurück und überlegen, was das sein könnte.

Regelmäßig stellen die Projekt-Kinder den anderen ihre neuen Erkenntnisse vor. Meist sind es zwei Kinder – aber jedes Kind kommt mal dran –, die den Projektverlauf erläutern und dabei merken, welche Fragen noch nicht beantwortet sind. Die Aufgabe, alle Vorgänge sprachlich auszudrücken, spielt eine wichtige Rolle, weil sie das Denken der Kinder anregt und entwickelt. Sprache als Tor zur Welt wird in der Projektarbeit bewusst gefördert.Es gibt 100 Möglichkeiten, die Welt mit Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren zu erforschen. Brigitte Rametsteiner beschreibt, welche Wege die Kinder ihrer Gruppe beschritten, und hörte ihnen zu. Die Serie begann in Heft 1-2/08.

Vier Kinder aus unserer Gruppe haben ihre Wurzeln in Bosnien und Kroatien. Da es in den Familien Verbindungen gibt und die Länder aneinander grenzen, wollten wir sie beide besuchen. Nikola konnte es kaum erwarten und hatte schon Reisevorbereitungen getroffen: Stolz präsentierte er Landkarten, Geld und Fahnen. Julias polnische Kinderlieder wurden nun von Nikolas Liedern abgelöst. Wie Julia sang er immer mit.
Bei den Büchern erzählte ich meine Version zu den Bildern, aber die Kinder wollten, dass ich die Geschichten im Original vorlese. Ich tat mein Bestes. Hoffnungsvoll fragte ich Nikola, Melanie, Maxi und Ksenija, ob sie etwas verstanden hätten. Melanie sah mich fragend an, Ksenija lächelte, und Nikola – er hatte wohl ein wenig Mitleid mit mir – meinte: »Nicht viel.« Immerhin besser als gar nichts…


Kyrillische Buchstaben

Die Menschen in den Ländern, aus denen die Familien von Nikola, Melanie, Maxi und Ksenija stammen, sprechen: Bosnisch, Kroatisch, Serbisch. Die Schreibweise der Buchstaben unterscheidet sich jedoch. Viele schreiben wie wir das Lateinische Alphabet, die Serben verwenden das Kyrillische Alphabet.

Manche Mütter erzählten, dass sie in der Schule beide Schriften gelernt hatten: Eine Woche wurden die lateinischen Buchstaben und eine Woche die kyrillischen Buchstaben verwendet.
Wir sahen: Einige von Nikolas Bilderbüchern und ein dickes Kochbuch seiner Mutter sind in kyrillischer Schrift verfasst. Die Kinder waren von diesen sonderbaren Buchstaben fasziniert und sprachen von einer Zauberschrift – weil ich sie nicht lesen konnte.
Nikola: »So schreibt man in Bosnien. Ein bisschen anders auch, wie bei uns, aber ich kann das schreiben.« Er begann, Buchstaben zu malen.
Julia, Ksenija, Lisa, Anna und Dennis versuchten sich nun auch an kyrillischen Buchstaben.
Julia: »Diese Buchstaben sind so witzig und ganz anders als unsere. Da, bei dem glaubt man, es fährt ein Mensch Rad, dabei ist es ein Buchstabe.«
Ksenija: »Die Buchstaben sind wie ein Muster.«
Mimi: »Das könnte eine Geheimschrift sein.«
Julia: »Es ist keine Zauberschrift, aber es sieht wie eine Zauberschrift aus.«
Melanie: »Es ist wie eine Fantasieschrift. Das kann alles Mögliche sein, wenn man es nicht kann oder nicht genau weiß… Aber die Menschen in Bosnien, die wissen es.«
Nikola: »Ja, weil sie es in der Schule lernen. Aber man muss es üben.«
Anna: »Da ist ein Buchstabe, der schaut aus wie ein Elefant.«
Stefanie vergleicht die kyrillischen Zeichen mit unserer Schrift: »Einige sind gleich, aber nicht alle. Der, der und der… Der nicht, nur beim Euro.«
Nikola: »Geheimschriften und Zauberschriften verwenden Spione und Zauberer.«
Mimi: »Vielleicht auch Hexen? Die machen einen Hexenpilzkreis…«
Ksenija: »Aber nur in deiner Fantasie, Mimi.«
Mimi: »Ich hab eine gute Fantasie, mir fällt immer was ein.«
Julia: »Mir gefällt die Schrift, weil sie anders ist.«
Amin: »Das ist so, weil Bosnien anders ist. Alle Länder sind verschieden. Ich weiß das, weil wir schon in den Libanon gefahren sind, und da hab ich das gesehen.«

Das Interesse an den kyrillischen Buchstaben wuchs zusehends. Und Nikola sah sich als »oberste Instanz« bezüglich der Aktivitäten zum Thema »Bosnien«. Anfangs beobachtete er, und eine gewisse Skepsis war nicht zu übersehen. Aber dann war er plötzlich mittendrin und führte Regie.


Kontakt:
Brigitte Rametsteiner
Reisingerweg 4
A-4040 Linz
Tel.: 0043 732 718 924,
0043 664 215 47 47
E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.





www.bhtourism.ba/ger/
Auf der offiziellen Tourismusseite Bosniens finden Sie alle relevanten Informationen für eine Reise.

www.auswaertiges-amt.de
Auf den Seiten des Auswärtigen Amtes gibt es – alphabetisch sortiert – Informationen zu allen Ländern, unter anderem auch zu Bosnien und Kroatien. Unter den jeweiligen Ländern befindet sich immer eine Liste mit relevanten und interessanten Links. Durchklicken über > Länder, Reisen und Sicherheit > Alle Länder A-Z.

www.amnesty.de
Aktuelle Informationen zur Menschenrechtslage in beiden Ländern finden Sie bei Amnesty International. Geben Sie die Länder in die Suchmaske oben ein.


Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 04-05/09 lesen.

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