Was an Reggio immer fasziniert, sind die Dokumentationen der Projektarbeit. In »Schuh und Meter«, »Springbrunnen« und »Das Fax« können wir Schritt für Schritt Themenentwicklung, Entwicklung ästhetischer Ausdruckformen, Theoriebildung, Ko-Konstruktion und Problemlösungsstrategien nachvollziehen. Da die Reggianische Pädagogik gruppenorientiert ist, kommen die Ideen aus der Kindergruppe. Doch selbst wenn Themen einmal nicht von den Kindern stammen, sondern aus der Kenntnis der Situation oder der Kinder von Eltern oder Erzieherinnen vorgeschlagen wurden, sind die Entscheidungen immer sehr kindorientiert.
Neuere Entwicklungen der Reggio-Pädagogik fordern die Frage, was unter Kindorientierung verstanden wird, in besonderer Weise heraus. Worin bestehen diese Entwicklungen?
Am Beispiel eines Metaprojekts nähert sich Doris Breuer solchen Entwicklungen und fragt, wie Jahresthemen, Metaprojekte und Instruktion zu unserem Bild von Reggio passen.
Inzwischen beschreiben Reggianische Publikationen auch übergeordnete Projekte, also Metaprojekte mit vorgegebenen Themen, die eine Vielzahl von Kindertageseinrichtungen gleichzeitig beginnen – jede einzelne aber mit einem eigenen Schwerpunkt. Das Ziel der Einzelprojekte, beispielsweise eine stadtweite Aktion1 oder eine Ausstellung, ist bereits vorab definiert. Bei dieser Projektform ist interessant, ob sich das Verhältnis von Prozess und Produkt verändert, wenn gemeinsame Projektthemen auf ein Endprodukt zielen und zu einem vorher definierten Termin fertig bearbeitet sein sollen.
Parallel dazu ist in Reggio oft von übergreifenden Jahresthemen für alle Kindertageseinrichtungen die Rede, die neben den Alltagsroutinen und der Projektarbeit existieren. Sie werden auf der jährlich stattfindenden Konferenz aller Pädagoginnen und Pädagogen der kommunalen Kitas in Reggio gewählt. Jahresthemen können aus der Wahrnehmung gesellschaftlicher Veränderungen erwachsen, zum Beispiel aus dem aktuellen Anstieg der Migrantenzahlen, der es nötig macht, Wege des Kennenlernens zu finden.2 Werden Jahresthemen mit Projekten zeitlich und inhaltlich koordiniert? Geben die einen die Fragestellungen und Impulse für die anderen?
Darüber hinaus ist Besuchern in Reggio häufig aufgefallen, dass neben dem Arbeiten in Projektform instruktivistische Elemente im pädagogischen Alltag, zum Beispiel beim Erlernen künstlerischer Techniken, selbstverständlich sind. Hier erhebt sich die zentrale Frage nach dem »Verhältnis zwischen Lernen und Lehren, das das Wesen der Erziehung ausmacht«.3
Über die genannte Aspekten hinaus deuten Reggianische Veröffentlichungen darauf hin, dass das Projektverständnis, in dem die Ganzheitlichkeit des schöpferischen Prozess und der erzählten Geschichten bisher Vorrang hatte, sich in Richtung auf die Betonung der kognitiven Durchdringung der Themen verschiebt. Verändert sich dadurch das Bild vom Kind?
Die vier skizzierten Beobachtungen könnten den Ablauf und den Charakter der pädagogischen Arbeit erheblich beeinflussen, vor allem unter dem Aspekt der Kindorientierung. Am Beispiel der Metaprojekte möchte ich mich diesen Fragen nähern, ohne Antworten parat zu haben.
Aus den Berichten der Fachberaterinnen in Reggio erahnt der Besucher eine Konzeptveränderung. Diese vorsichtige Formulierung ist nötig, da es sich auch um die Folgen von Übermittlungslücken und Übersetzungsproblemen handeln kann.
Der Kindergarten als Teil des Gemeinwesens
In der politischen und sozialen Nachkriegsgeschichte Reggio Emilias waren die Kindertagesstätten in der Kommune fest verankert.4 Als sichtbare Zeichen tragen die Tageseinrichtungen in Reggio Emilia politische, literarische oder Künstlernamen, zum Beispiel Anna Frank. Die fünf- bis sechsjährigen Kindergartenkinder beschäftigen sich damit, warum Dinge Namen haben, welchen Namen sie tragen und wer Anna Frank war. Selbst wenn sich in dieser Beziehung inzwischen viel verändert hat, verwundert es nicht, wenn Projektpräsentationen mit weitreichenden Feststellungen beginnen, dass die Beziehung zwischen der Kindertagesstätte und der Stadt die Identität der Einrichtung beeinflusst und dass die Institution Kindertagesstätte nicht nur Anteil an den Veränderungen des städtischen Umgebung hat, sondern dafür auch Verantwortung trägt.
Beide, die Kindertagesstätte und die Stadt, sind kulturelle Laboratorien, in denen die Kinder, die an allen Alltagstätigkeiten und -entwicklungen teilnehmen, aus dem Gewöhnlichen, Konformen heraustreten können, in das die italienische Schule als traditionell instruktivistische sie später hineinzwingt.5
»Nichts körperlich oder sozial Existierendes entgeht der Sensibilität und der Intelligenz großer und kleiner Menschen. Das gilt auch für die Stadt, die ein komplexes Gebilde aus Geschichte und Leben ist und sich in ständiger Veränderung und ständigem Dialog befindet – auch mit den Kindern. Ein Dialog in schwieriger Sprache, die die unterschiedlichen Aspekte der Stadt widerspiegelt (die physischen, funktionalen, kulturellen und symbolischen) und die die Kinder frühzeitig lernen müssen, um sich darin räumlich und menschlich orientieren zu können und zu lernen, die so gewonnenen Informationen und Kenntnisse mit ihren Bedürfnissen und Zielen in Einklang zu bringen.«
In diesem Sinne erkunden Kindergruppen in den letzten Jahren unter der Metaprojekt-Überschrift »Stadt in Erwartung« eine zentrale Einkaufsstraße, den Park oder das Theater. Ziel ist es, dass die Kinder mit größerer Bewusstheit in ihre eigene Kultur eindringen7.
Obwohl es für Erzieherinnen nicht einfach ist herauszufinden, welches bedeutsame Stadt-Orte für Kinder sein könnten, wählen sie selbst Plätze, Straßen und Parks für die Begegnung und den Dialog der Kinder mit den Orten aus. Sie fragen die Kinder nicht nach ihren Lieblingsstraßen, nach ungeliebten Plätzen oder nach den Geschichten, die sich hinter ihren Vorlieben verbergen, und lassen sie nicht darüber abstimmen.
Zwar spricht nichts prinzipiell gegen die Auswahl von Begegnungsorten durch die Erzieherinnen, aber es ist ein Leichtes, die Kinder selbst bei der Auswahl zu Worte kommen zu lassen.
1 Zum Beispiel Scuola Ernesto Balducci: My nose is full as a world. Reggio Emilia 2002
2 In den Kitas »L. Bellelli« und »Anna Frank« wurde das Projekt »Kulturen im Dialog« angesprochen, in dem ein ghanaischer, arabischer oder chinesischer »kultureller Vermittler« als »Dolmetscher« die Verständigung zwischen den Kulturen fördern soll.
3 Learning about Learning. rechild 04, S. 2
4 Film: Not just anyplace. Reggio Children 2002
5 Elena Giacopini, Vortrag vom 13.3.2006
6 Ausstellungstext 1995. Zitiert nach: Stenger 2002, S. 233f
7 »Enter with more consciuosness into a culture.« Milena Zanti, Vortrag vom 15.3.2006
www.dialogreggio.de
Website von Dialog Reggio, der Vereinigung zur Förderung der Reggio-Pädagogik in Deutschland. Viele Informationen zu Materialien (Texte, Dia-Serien, Videos) und Links finden sich auf der Seite.
www.dialog-reggio.ch
Ähnliche Seiten, darunter auch die der Vereinigung zur Förderung der Reggio-Pädagogik in der Schweiz.
www.reggiochildren.it
Internationale Website über Reggio Children (italienisch/englisch). Viele Informationen, Bilder und die Downloadmöglichkeit der Reggio-Children-Broschüre.
www.download-tipp.de
Wer mit den Kindern am Computer experimentieren und vielleicht ein Daumenkino oder einen Trickfilm herstellen möchte, findet hier kostenlose Software. Ein kleines Daumenkino lässt sich mit der »Daumenkino-Druckmaschine 2.0« und ein Trickfilm zum Beispiel mit der Software »Trickfilm Cam 1.0.0« in Verbindung mit dem kostenlosen »Windows Movie Maker« produzieren. Begriffe einfach in die Suchmaske eingeben.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 07/07 lesen.