Warum Kinder Arzt spielen wollen
In der Arztpraxis des Reggio-inspirierten Familienzentrums St. Otger nahe der niederländischen Grenze wird Blutdruck gemessen, Sauerstoff verabreicht und operiert. Ein Beitrag der Leitung Marion Röttgers zur Frage, warum Rollenspiele ein wesentlicher Bestandteil pädagogischer Konzepte in Kindergärten sein sollten.
»Ich glaube, du benötigst einen Verband – dein Brustkorb ist verletzt«, diagnostiziert das Kind im weißen Kittel und mit einem Stethoskop in der Hand. Umgehend folgt ein eifriges Umwickeln des Kindes auf der Liege in der Arztpraxis unseres Familienzentrums. Nach dieser ersten Notversorgung und der Aufforderung, einmal tief ein- und auszuatmen, unterhalten sich beide über verschiedene Krankheitsbilder und weitere Behandlungsmöglichkeiten. Im Spiel der beiden schwingt viel Ernsthaftigkeit mit. Ich bin sicher, es geht es ihnen nicht nur um Spaß. Im Gegenteil. Von den vielen Werkstätten in unserer Einrichtung scheinen mir in unserer Arztpraxis besonders viele Erlebnisse besonders ernsthaft nachgespielt zu werden.
Vorerfahrungen bringen sie dafür reichlich mit. Bei den regelmäßigen U-Untersuchungen werden sie abgehört und geimpft, gemessen und gewogen und bezüglich ihrer Entwicklung beurteilt. Neben den Besuchen in den Arztpraxen gesellen sich bei vielen Kindern Erlebnisse in der Notaufnahme zu unterschiedlichsten Krankheitsbildern und vielfältigsten Verletzungen hinzu. Positive und negative Eindrücke, die sie von Geburt an mit Ärzt:innen und Pfleger:innen sammeln, werden in unserer Rollenspielwerkstatt Arztpraxis verarbeitet.
Für jede Menge Untersuchungen
»Bitte stillhalten, ich hole die Pflaster«, tönt es aus der Arztpraxis. »Sie haben schwere Verletzungen und bluten sehr stark. Wie ist das passiert?« Das verletzte Kind erzählt jammernd seine Geschichte: »Ich bin mit dem Fahrrad gefallen und ganz feste auf die Straße geknallt.« »Oh, oh, das hört sich aber schlimm an, ich werde Ihnen helfen und Sie verarzten«, antwortet der »Arzt«. Rollenspiele – zu jedweder Erfahrungswelt – sind ein sicherer und spannender Weg für Kinder, ihre Emotionen auszudrücken. Sie ermöglichen ihnen, verschiedene Rollen zu erkunden und ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen, unabhängig davon, ob sie wütend, ängstlich oder überglücklich sind. Gleichzeitig entwickeln sie Empathie, indem sie die Emotionen anderer verstehen und lernen, ihre eigenen Gefühle zu bewältigen und gesund damit umzugehen. Das Rollenspiel ist eine für Drei- bis Sechsjährige besonders beliebte fantastische Möglichkeit, Emotionen in Szene zu setzen und dabei spielerisch zu lernen. Dafür schlüpfen die Kinder in Rollen und Situationen, die sie gerade beschäftigen und die sie aus dem Alltag kennen. Sie nehmen andere Rollen an und versetzen sich in fremde Personen.
Damit sie sich aktiv mit ihrer Umwelt auseinandersetzen und Erfahrungen verarbeiten können, stellen wir ihnen unterschiedliche Gegenstände und Materialien wie Verbände, Pflaster, Stethoskope, Urinbeutel, Beatmungsmasken, Röntgenbilder, Kittel, Fachbücher, eine Untersuchungsliege und sogar einen ausrangierten, aber voll funktionsfähigen Rollstuhl zum Experimentieren, Gestalten und Nachschlagen zur Verfügung. Dabei setzen wir Wert auf authentische, hochwertige Gegenstände, die wir mit großer Sorgfalt und für alle Kinder leicht zugänglich in den Regalen präsentieren. Nichts davon muss teuer gekauft werden. Eltern, die in Arztpraxen oder Krankenhäusern arbeiten, versorgen uns regelmäßig mit Materialien aus dem echten Leben. Die niedergelassenen Ärzt:innen und Krankenhausleitungen unterstützen damit unsere Kinder, aktiv an einer positiven Einstellung hinsichtlich medizinischer Behandlungen zu arbeiten, für die wir Pädagog:innen ihnen die Zeit und den Raum geben.
Marion Röttgers leitet das Familienzentrum St. Otger. Mit ihren Fachkräften und Gastgeberinnen der Rollenspielwerkstatt Jutta Lüdiger und Annette Gehling teilt sie die Leidenschaft für die Reggio-Pädagogik. Mit ihrem Team von insgesamt 15 großen Menschen verwandelte sie ihre Kindertageseinrichtung in ein Familienzentrum mit unermesslichem Raum zum Experimentieren, Ausprobieren und Entdecken. Die Inspiration, eine Rollenspielwerkstatt einzurichten, kam ihnen beim Betrachten der Illustrationen in Werkstatt(t)räume für Kitas. Bei einem der zwölf bei verlag das netz erschienenen Werkstattbüchern von Marion Tielemann steht das Thema Rollenspielwerkstatt im Mittelpunkt.
Kontakt
web: www.familienzentrum-st-otger.info
email:
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/2024 lesen.