Die Geschichte einer facettenreichen Entwicklung eines Übergangs, mit ermutigenden Erfolgen und bangen Hoffnungen, erzählt Edeltraud Prokop.
Kinder bringen mit ihrem Start in die Welt die besten Voraussetzungen mit: Sie sind neugierig und wissenshungrig und deshalb explorationsfreudig, ihr Bewegungsdrang ist unersättlich. Sie erleben sich selbstwirksam und streben nach Autonomie, wollen ihr soziales Umfeld mitgestalten. Sie sind beziehungsfähig und suchen von Anfang an die Interaktion mit Erwachsenen und Kindern.
Diese Potentiale, die von Geburt an in den Kindern angelegt sind, können nur aktiviert werden, wenn wir ihre Grundbedürfnisse nach Nähe und emotionaler Sicherheit erfüllen, und wenn wir Ihnen ein anregendes Umfeld in Innen- und Außenräumen zur Verfügung stellen. Es geht um eine Umgebung, in denen Kinder ihren Spielimpuls und ihren Forscherdrang, ihre Entdeckungsfreude und ihre Lust am Lernen ausleben können. Und es geht um uns Erwachsene, die wir diese Kinder responsiv und feinfühlig begleiten.
Schon 1993 hat Dornes den Begriff vom kompetenten Säugling in den Mittelpunkt gerückt und darauf hingewiesen, dass der Säugling uranfänglich auf eine dialogische Beziehung zu seiner Umgebung angelegt und angewiesen ist. »Der Säugling erscheint nun als aktiv, differenziert und beziehungsfähig, als Wesen mit Fähigkeiten und Gefühlen, die weit über das hinausgehen, was die Psychoanalyse bis vor kurzem für möglich und wichtig gehalten hat.«1
Dieses neue Bild vom Kind wird seit vielen Jahren durch aktuelle Studien bestätigt, und genau dieses Bild vom Kind hat mein Team und mich vor rund 25 Jahren herausgefordert, für die von uns betreuten Kinder einen entsprechenden Lebensraum zu schaffen. Im Folgenden will ich erzählen, wie wir uns in den vergangenen Jahren mit dieser Thematik auseinandergesetzt haben, zu welchen Ergebnissen wir dabei gekommen sind und was uns nach wie vor umtreibt.
Mancher Anfang ist mühsam
Als ich mit meinem damaligen – und teilweise immer noch bestehenden – Team die Hinweise aus neueren Studien reflektierte, stellten sich uns schnell unterschiedliche Fragen:
- Geben wir den Kindern überhaupt Freiräume für selbstbestimmte Spiele?
- Dürfen unsere Kinder alle Räume nutzen und entscheiden, mit wem, wann, wo, womit und wie lange sie spielen wollen?
- Wie steht es um die Qualität unserer Räume? Machen sie Lust zum Experimentieren und Ausprobieren und ermöglichen sie solche Aktivitäten?
- Dürfen unsere Kinder jederzeit und bei jedem Wetter das Gartengelände nutzen?
- Wann und wie lange lassen wir unsere Kinder in selbstorganisierten Gruppen spielen?
- Beteiligen wir unsere Kinder bei der Raumgestaltung?
Im Rückblick auf diese Zeit steht für mich fest, dass diese und ähnliche Fragen für uns notwendig und hilfreich waren, aber was mir und meinen Kolleginnen damals höchstens ansatzweise klar war, war der Umstand, dass sich aus der Beantwortung dieser Fragen sehr viel weitreichendere Konsequenzen ergeben würden, als wir sie damals absehen konnten. Vor allem aber hatte ich zwei wesentliche Aspekte unterschätzt: Zum einen mussten die geplanten Veränderungen in ihrer Umsetzung – wenn wir unsere Erkenntnisse denn konsequent verwirklichen wollten – unseren gesamten Arbeitsalltag beeinflussen, zum anderen konnten und wollten längst nicht alle Teammitglieder diese Veränderungen gleichermaßen mittragen. »Ich arbeite jetzt schon so viele Jahre im Gruppenraum und ihr habt mir erst vor Kurzem gesagt, wie gemütlich ihr meinen Gruppenraum findet. Und die Kinder sind da auch gerne, viel lieber als in der roten und in der grünen Gruppe. Ich verstehe nicht, warum jetzt jeder Gruppenraum anders sein soll, meiner sieht sowieso schon anders aus. Schon wegen meiner Pflanzen und der Bilder. Und meine Kinder brauchen diesen Raum für sich, die wollen gar nicht in den anderen Räumen sein. Unser Raum ist ihre Heimat.« (eine Erzieherin im damaligen Team)
Mehrheitlich waren wir damals zur Einsicht gekommen, dass eine Gliederung des Hauses in mehrere, möglichst gleich gestaltete Gruppenräume nicht nur eine sonderbare Form der Raum und Ressourcenverschwendung darstellt, sondern auch eine ziemlich starre Gruppierung der Kinder mit sich bringt. Die Tatsache, dass die Kinder nahezu ausschließlich den ganzen Tag über in »ihrer« Gruppe verbrachten, war im Übrigen natürlich nicht das Ergebnis einer Entscheidung der Kinder, sondern auf die bislang gewohnte Arbeitsorganisation zurückzuführen.
Eine unserer ersten Veränderungen war die Umstrukturierung der bisherigen Gruppenräume in »Erfahrungsräume«. Zudem wollten wir dabei auch die Kinder selbst einbeziehen. Nur: Wie macht man das mit Kleinkindern?2 Eine sehr gute Möglichkeit, insbesondere die Bedürfnisse von Kleinkindern zu berücksichtigen, geht von einer einfühlsamen und Anteil nehmenden Beobachtung ihres Verhaltens aus. Welche Materialien finden Kinder ansprechend? Welche (Rollen-)Spiele lieben sie besonders? Welche Räume und Plätze mögen sie? Wie bilden sich Gruppen und wie lösen sie sich wieder auf? – Diese und weitere Fragen führten uns nach und nach zu konkreten Entschlüssen, wie wir die bisherigen drei Gruppenräume und bald darauf auch das Gartengelände neu strukturieren wollten. So entstanden zunächst ein Musik- und Theaterraum, ein Mal- und Werkraum sowie ein ebenfalls von allen Kindern gemeinsam genutzter Speiseraum, dem noch einige weitere Elemente wie etwa eine Bücherecke hinzugefügt wurden.
Die Neustrukturierung der Einrichtung war auch eine Chance, neue PädagogInnen zu gewinnen, die von Anfang an motiviert waren, mit uns gemeinsam solche neuen Lebensräume zu entwickeln. Gleichzeitig begann in der Zeit der Umstellung etwas Entscheidendes, das für uns bis heute gilt: Die Zeit von »meine Kinder«, »meiner Gruppe« oder gar »meinem Gruppenraum« ist vorbei. Stattdessen tragen wir nun alle zusammen die Verantwortung für alle Kinder. Und es wurde zu einem gemeinsam verfolgten Ziel, in unserem Haus eine für alle Kinder und Familien angenehme und anregende Atmosphäre zu schaffen.
Edeltraud Prokop ist Erzieherin, Kinderkrankenschwester, Freilandpädagogin und Multiplikatorin für die Bildungs und Lerngeschichten, leitete ein städtisches Haus für Kinder (Konsultationseinrichtung) in München und begründete zusammen mit ihrem Team die sogenannte Freilandpädagogik.
Kontakt
1 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Dornes; 23.06.2019
2 Die damalige Einrichtung war eine reine Kinderkrippe, erst ein paar Jahre später konnten Kinder auch bis zum Schuleintritt bei uns bleiben.
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 07-08/19 lesen.