Die Suche nach dem Wir (Teil 1)
»Wir sind sehr offen gegenüber anderen Kulturen und fremde Kulturen stellen in der Kita eine große Chance dar!« – Viele Kitas positionieren sich so oder so ähnlich in Bezug auf das Thema *Kultur. Doch wer sind eigentlich »Wir« und wie kommt diese Botschaft bei den Kindern und ihren Bezugspersonen an? Wird durch eine solche Formulierung vielleicht sogar gerade erst ein Gegensatz zwischen einem »Wir« und »den Anderen« konstruiert? Ein Thema, viele Fragen, gestellt von der Erziehungswissenschaftlerin Caroline Ali-Tani.
In vielen Kitas hängen unterschiedliche Nationalflaggen im Eingangsbereich, um die Vielfalt in der Kita sichtbar zu machen und den Familien zu signalisieren, dass sie »willkommen« sind und dazugehören. Doch kommt diese Botschaft an? Löst das Aufhängen unterschiedlicher Nationalflaggen bei den Adressaten, also den Familien, tatsächlich ein Gefühl der Zugehörigkeit aus oder laufen solche und ähnliche Praktiken im Kontext kultursensibler Pädagogik Gefahr, Vielfalt nicht als selbstverständlich und gleichwertig anzusehen, sondern Unterschiede zuzuschreiben, zu verstärken und Ungleichwertigkeit herzustellen?
Grundsätzlich sagt eine Flagge als Symbol für die Herkunft einer Familie nichts darüber aus, welchen Bezug die Familie zu ihrem Herkunftsland hat und ob dies in ihrem aktuellen Lebenskontext und Alltag eine Rolle spielt oder welchen Stellenwert die Nationalität in der Identität ausmacht. Viele Familien und Kinder besitzen die individuelle Freiheit, ihre Identität und die für sie relevanten Aspekte überwiegend selbst definieren zu können. Anderen wird dies nicht zugestanden, weil sie Merkmale besitzen, die ein Auslöser für die Zuschreibung von Identitäten sein können. Ist *Nationalität, symbolisiert durch eine Flagge, ein bedeutsamer Identitätsaspekt für die betreffende Familie bzw. das Kind oder wird das von anderen konstruiert?
Zugehörigkeit oder Festlegung?
Kinder erweitern mit dem Eintritt in die Kita ihren Bezugsrahmen. Während ihr Lebensumfeld, der Alltag, die Regeln und Routinen vorher meist hauptsächlich von der eigenen Familie bestimmt und geprägt wurden, müssen sie sich in der Kita nicht nur mit gegebenenfalls anderen Abläufen und Regeln auseinandersetzen, sondern begegnen auch anderen Kindern und Erwachsenen. Insbesondere in den täglichen Interaktionen und den Rückmeldungen, die sie von den Bezugspersonen in der Kita bekommen, nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf ihre Familie bezogen, entwickeln sie ihr Selbstbild und ihre Identität. Diese setzt sich nicht nur aus der eigenen Persönlichkeit und den individuellen Eigenschaften zusammen, sondern ebenso aus Zugehörigkeiten zu sozialen Bezugsgruppen.1 Für viele Kinder bedeutet das, dass sie frühe, irritierende und schmerzhafte Erfahrungen mit dem *Anders-Sein machen. Meist aufgrund eines Merkmals – z.B. eine Haarfarbe, ein Hautton, ein Name, eine Augenform oder eine andere Sprache als deutsch –, das sie von einer vermeintlichen *Normalität unterscheidet und ihnen als relevant für die eigene Identität zugeschrieben wird. Auch wenn der Lebenskontext und das Alltagsleben sich ausschließlich im näheren Umfeld, d.h. in der Kita und der Familie abspielt und die meisten Kinder mit zugeschriebenem – d.h. aufgrund von Äußerlichkeiten vermuteten – *Migrationshintergrund in Deutschland geboren sind und aufwachsen, wird ihnen diese Zugehörigkeit immer wieder abgeschrieben.
Was bedeutet *Nationalität für junge Kinder, insbesondere wenn sie in Deutschland geboren und aufgewachsen sind und trotzdem immer wieder als »türkisch« oder »russisch« bezeichnet werden? Forschungen belegen, dass Kinder sehr früh ethnische Unterschiede und deren gesellschaftliche Bewertungen wahrnehmen. Es sind aber hauptsächlich die Kinder, deren Sprache, Herkunft, Religion und äußere Merkmale einer Minderheit angehören und die ein niedriges soziales Ansehen haben, die sich schon sehr früh mit der ethnischen Zuordnung, insbesondere durch andere, beschäftigen (müssen).2
Kinder, die der Dominanzkultur zugeordnet werden, erleben sich in ihrem Aufwachsen nicht als *ethnisch, sondern als Norm und entwickeln entsprechende Gefühle von Überlegenheit. Dass das Merkmal der *Nationalität nicht für alle Kinder gleichermaßen von Bedeutung ist, wird in folgender Situation deutlich:
Als ich den Gruppenraum betrete, sind nur drei Kinder da. Ein »deutsches« Mädchen bastelt mit der Erzieherin am Tisch und da am folgenden Tag eine Teamfortbildung zum Thema Vielfalt und Inklusion stattfinden soll, erzählt mir die Erzieherin, dass sie in der Gruppe ganz viele Kinder mit unterschiedlichen *Nationalitäten hätten. Gemeinsam mit dem Mädchen, das neben ihr sitzt, überlegt sie und zählt die Kinder auf: »Also … wir haben Alexander, der ist russisch, Duy ist vietnamesisch und Linh auch … und Metin ist türkisch …!« »Ja!«, ergänzt das Mädchen, »und die sind heute alle nicht da!« Nach einer kurzen Pause sagt sie dann noch: »Und ich bin nichts!« »Doch! Du bist deutsch!«, sagt die Erzieherin etwas vehement. Das Mädchen zögert und fragt die Erzieherin dann: »Und du?« »Welche Sprache spreche ich denn?«, fragt die Erzieherin entrüstet und fügt hinzu: »Deutsch! Ich bin deutsch!«
Der *Stolperstern
Mitunter verwenden wir Begriffe, obwohl sie nicht exakt das abbilden, was wir ausdrücken wollen. Vielleicht, weil uns der korrekte Begriff für einen Moment entfallen ist, vielleicht, weil es schlicht keinen geeigneten gibt. Letzterem sind wir häufig ausgesetzt, wenn wir bekannte Sachverhalte aus einer neuen Perspektive betrachten oder mit anderen Worten: Wenn wir lernen.
In der Vorbereitung des vorliegenden Beitrags betraf das z.B. Begriffe wie Kultur, Nation, Nationalität oder Migrationshintergrund. Wir halten deren unreflektierte Verwendung für nicht tragbar. Um sie nicht unsererseits unreflektiert zu verwenden und zu deren Verfestigung beizutragen, haben wir den *Stolperstern erfunden.
Wir stellen ihn jenen Begriffen voran, deren Inhalt und Verwendung wir bedenklich finden. Damit hoffen wir, unseren Teil zu einer Sprachsensibilität beizutragen, die sich im besten Fall vom gelesenen Text in den Alltagssprachgebrauch – mit gedanklichem Stolpersteinen – überträgt.
Der Stolperstern soll – ähnlich den an Opfer des Nationalsozialismus erinnernden Stolpersteinen – bewirken, dass man über die mit ihm markierten Begriffe stolpert und nachdenkt, sich den mit ihnen einhergehenden Vorannahmen, Vorurteilen und Zuschreibungen bewusst wird und darüber bewusst bleibt, dass Begriffe wie *Nation oder *Kultur Kollektivgruppen pauschal zusammenfassen und nichts über einzelne Individuen aussagen – und man diese Begriffe nicht mehr unreflektiert benutzt.
Vielfalt, Unterschiedlichkeit oder »Anders-Sein« zeigen sich nur dann, wenn Gruppenbildung nicht dynamisch verstanden und gelebt wird, sondern aufgrund eines einzelnen Aspektes – z.B. ein äußeres Merkmal – geschieht. Solches Vorgehen konstruiert und konstituiert Kollektivgruppen, zieht Grenzen und kreiert Vorurteile, Vorannahmen und starre Erwartungshaltungen, die bewirken, dass wir zu manchen Menschen keine Verbindung aufbauen. Je nachdem welchen Aspekt wir uns bewusst machen: Vielleicht gibt es ja viel mehr, was uns verbindet, wenn wir nicht den ersten Eindruck als Maßstab setzen? Ohne viele Worte und sehr eindrucksvoll zeigt das Video All that we share, wie vielfältig und dynamisch sich »Wir« gestalten kann. Geben Sie dafür die Stichworte All that we share in die Suchfunktion Ihres Browsers ein oder den direkten Link www.youtube.com/watch?v=i1AjvFjVXUg (01.07.2019)
Caroline Ali-Tani M. A. arbeitet als Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Paderborn im Arbeitsbereich »Inklusive Pädagogik« insbesondere zu den Themen Inklusion, Vielfalt, Partizipation und Kinderrechte in Kindertagesstätten, vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung und Wahrnehmung von Vielfalt in der frühpädagogischen Praxis.
Kontakt
1 Vgl. Wagner P. (2014): Was Kita-Kinder stark macht. Gemeinsam Vielfalt und Fairness entwickeln. Berlin.
2 Vgl. Derman-Sparks L., Ramsey P. (2011): What if all kids are white? Anti-bias multicultural education with young children and families. New York.
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 07-08/19 lesen.