Seit einigen Jahren lassen europäische Behörden an den Grenzen auch Kinder verhaften. Dass diese integrationspolitische Praxis gegen Kinder- und Menschenrechte verstößt, liegt auf der Hand. Françoise Kempf berichtet vom Kampf des Europarats gegen die Inhaftierung geflüchteter Kinder.
Der Europarat, der in diesem Jahr sein 70-jähriges Bestehen feiert, setzt sich für den Schutz der Menschenrechte in den 47 Mitgliedsstaaten der Organisation sowie für die Förderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ein. Dieser Auftrag ist nicht auf die Staatsangehörigen der Mitgliedsstaaten beschränkt – die Menschenrechte gelten bekanntlich für alle Menschen, unabhängig von ihrer Nationalität. Angesichts der verstärkten Einwanderung von Asylsuchenden und MigrantInnen in den letzten Jahren musste der Europarat die Mitgliedstaaten an ihre Verpflichtung erinnern, die Rechte von Eingewanderten zu achten und eine Einwanderungspolitik umzusetzen, die nicht im Widerspruch zu internationalen Standards bezüglich Menschen- und Asylrechten steht.
Geflüchtete Kinder sind besonders gefährdet für alle Arten von Verletzungen ihrer Rechte – unabhängig davon, ob sie allein oder mit ihren Familien unterwegs sind. Viele von ihnen leben unter erbärmlichen Bedingungen, wie sie Niki Bibudis in seinem Artikel über die Situation auf den griechischen Inseln beschreibt. Oft haben sie keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und angemessenem Wohnraum und können Opfer von Gewalt und Missbrauch sowie von Menschenhandel werden. Angesichts dieser oft dramatischen Situationen hat sich der Europarat verpflichtet, seine Mitgliedsstaaten darin zu unterstützen, die Rechte von geflüchteten und migrantischen Kindern stärker zu respektieren.
Im Februar 2019 gab der Europarat ein Handbuch heraus, das Fachkräften helfen soll, geflüchtete Kinder mit Informationen zu versorgen, die auf ihre Situation zugeschnitten sind. Weiterhin wird geplant, Empfehlungen zur gesetzlichen Vormundschaft unbegleiteter Minderjähriger zu veröffentlichen, die eine wichtige Voraussetzung für den Zugang zu medizinischer Versorgung, Sozialhilfe und Hilfe im Asylverfahren ist. Auch die Verfahren zur Altersbestimmung junger MigrantInnen werden weiter verfeinert. Alle diese Maßnahmen werden im Rahmen eines Aktionsplans des Europarats zum Schutz geflüchteter Kinder durchgeführt, der 2017 angenommen wurde.
»Kindgerechte« Haft?
Das Amts des Menschenrechtskommissars, das 1999 im Europarat geschaffen wurde, um den Staaten zu helfen, ihre Verpflichtungen im Bereich Menschenrechte besser zu erfüllen, legt einen besonderen Fokus auf die Situation geflüchteter und migrantischer Kinder. Kinderrechtsverletzungen werden öffentlich angeprangert – v.a. die Tatsache, dass Kinder allzu oft nicht als eigenständige Rechtssubjekte betrachtet werden. Wie schon ihre Vorgänger spricht die Menschenrechtskommissarin Dunja Mijatovi eine bestimmte Rechtsverletzung immer wieder an: die Inhaftierung von Kindern aufgrund ihres asylrechtlichen Status oder des entsprechenden Status ihrer Eltern. Geflüchtete Kinder – unabhängig davon, ob sie allein reisen oder in Begleitung ihrer Familien – werden immer häufiger verhaftet, manchmal automatisch, wenn sie eine Landesgrenze übertreten.
Größerer Kontext ist hier die steigende Tendenz, Asylsuchende zu inhaftieren, um künftige EinwanderInnen abzuschrecken und die Abschiebung von Menschen in einer rechtlich nicht geklärten Situation zu beschleunigen. Selbst ein Land wie Belgien, das diese Praxis vor mehreren Jahren aufgegeben und auf alternative Lösungen wie die Unterbringung in offenen Familieneinheiten zurückgegriffen hatte, hat die Inhaftierung von Familien mit Kindern vor Kurzem wieder eingeführt.
Die Landesbehörden nennen verschiedene Gründe, um die Inhaftierung von Kindern – auch sehr junge Kinder – zu rechtfertigen:
• die wirksame Durchführung von Abschiebeanordnungen,
• um Kinder nicht von ihren Eltern zu trennen,
• die Begrenzung der Fluchtgefahr,
• um Familien und besonders Kinder vor Menschenhandel zu schützen, indem man sie unter Beobachtung hält.
Die Behörden halten eine Inhaftierung für akzeptabel, solange sie in einem »kindgerechten « Kontext stattfindet. Gegen diese Ansicht spricht, dass die Haft für Kinder, selbst wenn sie nur wenige Tage andauert, sehr schädliche Folgen hat: Untersuchungen berichten von posttraumatischen Belastungsstörungen, Schlafstörungen, Depressionen sowie über negative Auswirkungen auf die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander. Dazu kommt, dass sich viele europäische Gefängnisse in der Nähe von Flughäfen befinden, wo Kinder zusätzlich zu den üblichen Belastungen der Inhaftierung dem Lärm und der Luftverschmutzung durch Flugzeuge ausgesetzt sind.
Im Jahr 2015 befand der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Frankreich für schuldig, in einem Verwaltungsgefängnis Kleinkinder inhaftiert und damit gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen zu haben. Im Urteil wurde betont: Selbst wenn die materiellen Bedingungen bestimmter Gefängnisse korrekt wären, könnten die gefängnistypischen Bedingungen wie Enge, Lärmbelästigung, Anwesenheit bewaffneter PolizistInnen, Teilnahme an den Anhörungen der Eltern usw. nur eine nachteilige Wirkung auf junge Kinder haben. Die RichterInnen waren daher der Ansicht, dass die Inhaftierung von Kindern eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung darstellt, die aufgrund der Menschenrechtskonvention unterbunden werden muss.
Françoise Kempf arbeitet im Menschenrechtskommissariat des Europarats in Straßburg.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe KINDER in Europa heute 03/20 lesen.