Francesco Di Iacovo über die Ausgangslage
Strukturellen Umbrüchen zu begegnen, braucht es oftmals neuartiger Lösungen. Die Region Toskana versucht mit Unterstützung der Universität Pisa neue Wege zu gehen. Francesco Di Iacovo beschreibt das Vorgehen in der Toskana und stellt heraus, wie wichtig es für ländliche Gebiete ist, eng mit ihren städtischen Zentren zusammenzuarbeiten und so ihre Benachteiligungen zu überwinden. Grazia Faltoni veranschaulicht einige der Modelle, die von dem sozialen Genossenschaftsprojekt Koiné entwickelt wurden. Und Anna Pelloni schreibt über Angebotsformen, die erst ein neues Regionalgesetz der Emilia Romagna aus dem Jahr 2000 ermöglichte.
Nur wenn es in ländlichen Gebieten gelingt, den Bedarf der Menschen an sozialen Diensten und an Bildung zu befriedigen, gibt es ein wirtschaftliches Überleben. Mehr und mehr verstädtert unsere Welt und damit einher wird der Wohlstand ungleich zugunsten der Städte verteilt. Sollen ländliche Gebiete überleben und sogar regenerieren können, müssen Stadt und Land gemeinsam planen und handeln. Ein Rückgang der Bevölkerungszahlen wird für viele ländliche Gegenden in Italien vorhergesagt, doch gleichzeitig entdecken viele Stadtbewohner das Land neu und ziehen dorthin.
Diese an sich gegensätzliche Entwicklung ermöglicht neuartige städtischländliche, »ständtliche«, Beziehungen zwischen den Städten und den sie umgebenden Gemeinden. Gestärkt werden die Möglichkeiten der direkten Versorgung mit Nahrungsmitteln, der Einfluss der Landgemeinden über das, was angebaut wird sowie die Entwicklung einer multifunktionellen Landwirtschaft, die zum Beispiel auch sozialen Bedürfnissen gerecht wird. Dafür müssen Wege gefunden werden, soziale Einrichtungen und auch die kulturelle Identität der »Ländler« zu stärken. Schlüsselbegriffe hierfür sind: Innovation, generationsübergreifend, kulturübergreifend, multifunktional …
Lange konnte die Toskana Vorteile aus ihrem unverwechselbaren Erbe ziehen, aus hochwertigen einheimischen Produkten und aus der attraktiven Landschaft. Dennoch erfuhr sie einen deutlichen Rückgang und einen Alterungsprozess der Bevölkerung, erlebte den Wegzug der Einheimischen und den Zuzug von Städtern, doch es blieb eine Kluft zwischen neuen, jungen Einwohnern und alten Einheimischen. Viele traditionelle spezielle Kenntnisse und Fertigkeiten gingen verloren. Der wirtschaftliche Ertrag ging zurück und so konnten und können die Gemeinden sich soziale Dienste wie in der Stadt nicht leisten.
Im Zeitraum von 2001 bis 2006 entwickelte die Regionalregierung eine Strategie zum Einsatz neuartiger multifunktionaler sozialer Dienste, welche die vorhandenen Ressourcen wie die Landwirtschaft nutzen sollten. Forschungsergebnisse aus drei Berggemeinden in der Toskana lieferten Material für den Regionalplan zur ländlichen Entwicklung. Rund 60 Gemeinden wurden finanziell gefördert. Das Gesamtbudget umfasste fast 70 Mio Euro. Mehr als 200 soziale Dienste und Freizeitangebote entstanden, mehr als 38.000 Einwohner aller Altersgruppen hatten daran teil. Neuartige, auf dem Vorhandenen aufbauende, Mehrzweckangebote wurden unterstützt. Das Konzept des »Sozialen Bauernhofes« entstand.
Darunter wird die Nutzung von Bauernhöfen für die Integration und Rehabilitation verschiedener Zielgruppen verstanden, beispielsweise Flüchtlingen und geistig Behinderten, und auch für eine Reihe unterschiedlicher Angebote für Kinder und Jugendliche. Die Ergebnisse einer Evaluation der Projekte in der Toskana, in anderen Regionen und auf nationaler Ebene wurden in den Nationalen Strategieplan für ländliche Gebiete (2007 – 2013) aufgenommen.
Diese neuartigen Dienste haben sich als wirksame Mittel gegen die Herausforderungen erwiesen, denen ländliche Gemeinden heutzutage gegenüber stehen. Sie tragen zu einer eher langfristigen und eher strategischen Entwicklung bei, was durch Stärkung und Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen städtischen und ländlichen Gebieten und auch Regionen übergreifend zu viel effektiverer Planung führt. Die vorhandenen Ressourcen werden nutzbringender eingesetzt – etwa beim »sozialen Bauernhof«. Die Gemeinden bekommen Unterstützung beim Aufbau einer erneuerten Partnerschaft zwischen Stadt und Land, um den heutigen Anforderungen gemeinsam zu begegnen.
Fallstudie 1
Mehrzweckgemeinschaftseinrichtungen
Diese Einrichtungen wurden in einer Zusammenarbeit zwischen den örtlichen Gemeinden, Freiwilligendiensten und Gewerkschaften in der Landwirtschaft aufgebaut. Als Mehrzweckangebot dienen sie Kindern und Jugendlichen im Alter von drei bis 18 Jahren und der Nachbarschaft auch zu anderen Zwecken. Sie bieten Kindern Unterstützung und Aktivitäten sowohl während des Schuljahres als auch in den Ferien. Eine ganze Reihe von Angeboten ist auf die Unterstützung der Entwicklung und des Lernens gerichtet, indem sie den Kindern helfen, die Umgebung wieder wahrzunehmen, lokale Traditionen zu entdecken, Unternehmergeist zu entwickeln und neuartige Erfahrungen mit Arbeit zu ermöglichen. Die Einrichtungen sind Stützpunkt für Waldtourismus, Jugendinformationsdienste, Mediation für Familien und Seniorentreffpunkt. Sie sind Anlaufstelle für Geschäftsleute oder einfach nur Treffpunkt und Erholungsort für Kinder und Jugendliche.
Fallstudie 2
Aus einer Schule wird ein multifunktionales Zentrum
Örtliche Gemeindebehörden, Landwirtschaftsgenossenschaft und Gewerkschaft, Gesundheitsbehörde und Freiwilligenorganisationen arbeiteten zusammen, um einen Anbau an einer Schule in Cavriglia (Arezzo) zu errichten. Darin können sich nun Jugendliche treffen, sie bekommen Informationen und können an Computer- oder Musik-Workshops teilnehmen. Darüber hinaus gibt es ein Betreuungsangebot für kleine Kinder, ein Spielzimmer und einen Raum für die Eltern. Beabsichtigt war, sowohl soziale Dienstleistungen anzubieten, die in dieser Gegend fehlten, als auch die Beziehungen zwischen Eltern und Jugendlichen zu stärken sowie Bewerbungstrainings und Arbeitsmöglichkeiten zu eröffnen.
Fallstudie 3
Der soziale Bauernhof
In Valdera, nahe Pisa, versuchen Gemeinden, Landwirtschaftsverbände, lokale Gesundheitsbehörden und Universität eine Palette verschiedener Dienste anzubieten und abzusichern, wobei sie auf den vorhandenen landwirtschaftlichen und organisatorischen Ressourcen aufbauen. Dazu gehören:
- Bauernhof-Kitas für Kinder im Alter zwischen fünf Monaten und fünf Jahren, mit weiteren flexiblen Angeboten durch professionelle Erzieher;
- Campi solari (Sonnen-Camps) genannte Freiland-Aktivitäten für Kinder von sechs bis elf Jahren auf einem Bauernhof; sie dauern mindestens eine Woche mit der Absicht, ihre soziale Entwicklung, Beziehungen und zugleich Umweltbewusstsein und Respekt für die traditionellen Lebensweisen zu fördern;
- Arbeit auf dem Bauernhof als Möglichkeit, Erfahrungen in einer geschützten Arbeitswelt zu sammeln; gedacht für 16-18-jährige Schulabbrecher;
- Anlaufstellen für Kinder, die vor Schwierigkeiten in ihren Familien stehen oder deren Familien politisches Asyl suchen, wo sie Übernachtungen, Essen, schulische und Freizeitangebote bekommen.
- Grazia Faltoni beschreibt die Arbeit von Koiné, einer Genossenschaft im Sozialwesen, als Teil der Zusammenarbeit zwischen der Universität Pisa und der Region Toskana.
Koiné ist ein soziales Projekt auf Genossenschaftsbasis mit Hauptsitz in der toskanischen Stadt Arezzo. Koiné plant und managt verschiedene Dienste, die von der Sozialfürsorge und Sozialpädagogik bis zur Förderung der Lebensqualität in Kommunen reichen. Die Genossenschaft ist Arbeitgeber für 450 Menschen in mehr als 70 Angeboten für mehr als 1.500 Nutzer täglich.
Koiné engagiert sich besonders in der Kleinkindbetreuung mit 40 verschiedenen Angeboten für Kinder in den ersten drei Jahren. Davon sind 21 Tagesstätten, ein pädagogisches Spielzentrum, zwölf Tagespflegestellen bei Erzieherinnen zu Haus (siehe auch Seite 28, Artikel von Anna Pelloni), eine »Frühlingsgruppe« – das ist eine Extragruppe für Zweijährige in einem Ganztagskindergarten –, zwei Spielzeugverleihstationen und ein Ferienzentrum. Koiné ist Partner von 17 Gemeinden und hat weiteren zehn Gemeinden mit Wissen und Erfahrung geholfen, pädagogische Angebote für Kleinkinder einzurichten. Koinés Rolle illustrieren die folgenden Beispiele.
Das Projekt »Die nicht vorhandene Insel« wurde gemeinsam mit der Gemeinde Terranova Bracciolini, der toskanischen Regionalregierung und mit Mitteln der EU (POM Projekt) aufgebaut. Es ist eine Krippe, die eine hohe pädagogische Qualität mit flexiblen Öffnungszeiten verbindet. Das preisgekrönte Projekt beeinflusste die regionale Gesetzgebung (Regionsgesetz 22.1999). Seine Flexibilität und Passgenauigkeit dienen nun vielerorts als Modell.
Beim »Tate Familiari«-Projekt handelt es sich um ein neuartiges pädagogisches Angebot in Form von Kindertagespflege für drei- bis sechsjährige Kinder zu Hause, bei den Erzieherinnen zu Haus oder in passenden Räumen. Damit wird auf die Besonderheiten in Berg- und ländlichen Regionen reagiert.
Koiné hat acht Kleinsteinrichtungen als Form professioneller Tagespflege, die in der Familie oder vorzugsweise bei den Erzieherinnen stattfindet, konzipiert und ist deren Träger; sechs gibt es in Bergregionen oder auf dem Land, zwei in Städten. Koiné hat zur Entwicklung von exemplarischen Angeboten für frühe Kindheit im ländlichen Raum beigetragen. Der Status einer Genossenschaft war geeignet, viele Teilhaber zu involvieren und das Engagement der Gemeinden zu sichern, während zugleich – mit Unterstützung der Universität Pisa – neue Modelle erprobt wurden.
Anna Pelloni beschreibt, wie ein Regionalgesetz aus dem Jahr 2000 zu neuen Einrichtungsformen in den Bergen des Apennin nahe Modena (Emilia Romagna) führte.
»Ich habe zwei Ziegen, einen Esel, die Gänse und viele Katzen. Und Pepe, meinen Hund«, erzählt Lucia, 29 Monate alt, und fährt fort: »Papa, Mama und das ist alles.« Lucia lebt in einem Haus in den Bergen, wohin ihre Eltern gezogen sind, weg von der Stadt, wo sie noch arbeiten. Marco, 25 Monate, sagt: »Ich sehe Oma Rinas Haus«, aber »kann nicht dorthin gehen: ist zu weit weg.« Giada, 18 Monate, erzählt, dass sie und ihre Schwester für gewöhnlich nicht draußen spielen, weil ihre Mutter den Nachbarn »nicht mag«.
Unser Blick fällt durch das Fenster der 80m² großen Wohnung auf die Berge ringsum das Dorf, 1.000 m über Meereshöhe im Apenningebirge. Die fünf Kinder dieser »pädagogischen Kleingruppe« sind alle zwischen 12 und 36 Monate alt. Sie sitzen am Tisch, und während sie aufs Essen warten, unterhalten sie sich. Ihre Eltern arbeiten auswärts, einige in der vorgelagerten Ebene, andere ein paar Täler entfernt. Sie sind sehr froh, dass sie ihre Kinder bei zwei educatori (Fachkräfte mit einer sozialpädagogischen Breitbandausbildung) lassen können. Die Gruppe ist täglich 10 Stunden verfügbar.
In diesem etwa 950 km² großen Gebiet liegen viele kleine borghi (Höfe mit zwei oder drei Häusern) verstreut. Für alle dieser kleinen, niedlichen Gemeinden zusammen gab es bis vor kurzem nur eine einzige Krippe für die Kinder unter drei Jahren. Für mehr und mehr Familien war es ohne Einbettung in einen erweiterten Familienkreis schwierig, für ihr Kind zu sorgen. Andere Familien wollten einfach die Bildungserfahrungen, die sie aus der Stadt gewohnt waren, behalten. So bedrängten sie ihre örtliche Berggemeinde, das Gesetz der Regionalregierung aus dem Jahr 2000 anzuwenden, mit welchem die Entwicklung experimenteller Angebotsformen finanziell unterstützt wird.
Dabei heraus kamen neue kleine Tageseinrichtungen, die »piccolo gruppo educativo« (pädagogische Kleingruppen). Sie werden in ganz normalen Häusern betrieben und bieten Platz für maximal fünf Kinder zwischen 12 und 36 Monaten. Sie sind einfacher zu gründen als Regeleinrichtungen, und trotz nötiger Umbauten fürs Essen und anderer Einbauten sind sie auch billiger.
Natürlich gibt es Unterschiede zwischen den sechs Gruppen, die mittlerweile im Apennin entstanden sind. Zwei wurden in einem kleinen alten borgo gegründet, in dem die educatora wohnt, jedoch im Nachbarhaus. Drei gibt es in verschiedenen Appartements eines »Ferienhauses« und eine Gruppe hat mitten in einem Dorf eine Mietwohnung bezogen, die der Gemeinde gehört.
Zwei der Erzieherinnen arbeiten mit ihrem Angebot als Selbständige. Drei Gruppen werden von ihrem pädagogischen Berater geleitet, der auch der Arbeitgeber der educatori ist. Alle Erzieherinnen verfügen über die gleiche sozialpädagogische Breitbandausbildung, wie diejenigen, die in Regeleinrichtungen arbeiten. Zusätzlich müssen sie laut Regionalgesetz mindestens sechs Monate Erfahrung aufweisen, bevor sie dieses »häusliche Angebot« anbieten dürfen. Alle Gruppen haben rechtlich bindende Vereinbarungen mit der örtlichen Gemeinde geschlossen, die sowohl finanzielle als auch pädagogische Unterstützung durch einen Berater vorsieht.
Eltern mögen, wenn ihre Kinder das Sozialleben in kleinen Gruppen beginnen können und auch die enge Beziehung zur educatore. Die offensichtlichen wirtschaftlichen Vorteile dieses Betreuungsmodells aber liegen vor allem in der Startphase; langfristig gesehen, liegt der größte Aufwand bei den Personalkosten.
Tagespflegestellen sind stets in Gefahr, isoliert zu arbeiten. Darum gibt es für die »pädagogischen Kleingruppen« ein Unterstützungsnetz, damit sie miteinander in Kontakt bleiben und dadurch ihre Qualität bewahren können. Die pädagogische Fachberatung geht wöchentlich in jede Gruppe, beobachtet, diskutiert Projekte und trifft Eltern.
Drei der Gemeinden haben eine gemeinsame Fachberatung für alle Babygruppen eingerichtet, gleich ob sie öffentlich oder privat, als häusliches oder als Tagesstättenangebot geführt werden. Alle Mitarbeiterinnen treffen sich monatlich und beratschlagen wichtige Anliegen und Projekte. Außerdem haben alle educatori der »pädagogischen Kleingruppen« ihre speziellen Treffen mit der Fachberatung, um Entwicklungsfortschritte der Kinder zu besprechen. Sie treffen regelmäßig mit Elternvertretern in einem Beirat zusammen, dem auch Mitglieder der Gemeinde angehören. Dort wird über Qualitätssicherung ebenso gesprochen, wie Feste geplant werden. Die educatori haben ein Anrecht auf 20 Stunden Fortbildung pro Jahr. Alle »Krippen« arbeiten zusammen mit anderen Institutionen, wie etwa Büchereien, Agenturen zur Umwelterziehung, Musikvereinigungen und »pädagogischen Bauernhöfen«.
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