Claire Cameron setzt sich kritisch mit einem häufig verwendeten Begriff auseinander.
Der Begriff Kompetenz wird überall in den frühpädagogischen Fachsprachen Europas verwendet, um all das zu bezeichnen, was im Namen der Praxis oder der Verantwortung für die Praxis getan wird. Dabei hat der Begriff jedoch wenigstens zwei verschiedene Bedeutungen. Die eine bezieht sich auf ein definiertes Geflecht von Wissen, Fertigkeiten und Haltungen, die ein bestimmtes professionelles Gebiet ausmachen. Die andere Bedeutung meint eine Herangehensweise an Wissen und die Entwicklung von Wissen auf einem bestimmten Gebiet. Ebenso gibt es die auf Kompetenz beruhende Herangehensweise an die Vorbereitung auf das Arbeiten in einem bestimmten Bereich.
Die Idee der Kompetenz steht auch im Zentrum der europäischen Reform der Hochschulbildung, die 1999 mit dem Bologna-Vertrag begonnen wurde. Der Vertrag erklärt, dass ein Europa des Wissens jetzt »als unerlässlicher Faktor für soziales und menschliches Wachstum weithin anerkannt ... und in der Lage ist, den Bürgern die notwendigen Kompetenzen zu vermitteln, um die Herausforderungen des neuen Jahrtausends zu meistern«. Ein Dokument der Europäischen Kommission von 2006 fügt hinzu, dass »Universitäten das Potential haben, eine wesentliche Rolle in Bezug auf das Ziel der Lissaboner Strategie zu spielen, Europa mit den notwendigen Fähigkeiten und Kompetenzen auszustatten, um in einer globalisierten, auf Wissen beruhenden Ökonomie erfolgreich sein zu können« (Strategie für Beschäftigung, verabschiedet im Jahr 2000).
Haben wir gemeinsame Auffassungen vom Begriff Kompetenz?
Die Definition von »Kompetenz« in einem englischen Wörterbuch lautet: »autorisiert sein oder fähig sein, etwas zu tun« und »kompetent sein heißt, über ausreichend Fertigkeiten, Wissen und Fähigkeiten oder Qualifikationen zu verfügen«. Die Verwendung von Begriffen wie ausreichend oder angemessen drückt aus, dass das Niveau des Wissens oder der Fähigkeiten, das erforderlich ist, unbedingt notwendig ist. Wissen und Fähigkeiten dürfen nicht unter ein bestimmtes Minimalmaß sinken. So gesehen gehört zur Entwicklung von Kompetenz und auf Kompetenz beruhenden Qualifikationen das Erreichen bestimmter Leistungsstandards, unter die keine Fachkraft gehen darf.
Auf den ersten Blick scheint diese Herangehensweise unumstritten zu sein. Betrachtet man sie näher, hat sie jedoch auch ihre Grenzen. Sie konzentriert sich mehr auf die Aspekte des »etwas tun Könnens« beim Lernen als auf die allgemeine Entwicklung von Wissen und Verständnis. Bei Qualifikationen, die auf Kompetenz beruhen, wird im Voraus festgelegt, welche Fertigkeiten und Kenntnisse – Kompetenzen – eine Fachkraft beherrschen muss. An diesen Kompetenzen wird sie dann auch bewertet. Dieser Prozess setzt die Übereinstimmung über die Fertigkeiten und Kenntnisse voraus, die für einen Beruf nötig sind, während in der Realität die Diskussionen über die professionelle Praxis und die »richtige Praxis« jedoch weitergehen und einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Praxisstandards leisten. Die Entwicklung eines Berufs erfordert eben auch genau die Qualifikation der Praktiker, die sie befähigt, in Debatten einzugreifen, zuzuhören, zu kommunizieren und auf demokratische Weise zu arbeiten.
In einem neuen Projekt, das untersucht, wie die Sozialpädagogik (oder »Bildung in ihrem umfassendsten Sinne«), eine in Europa weit verbreitete Herangehensweise, an Kindertageseinrichtungen in England eingeführt werden könnte, habe ich die Teilnehmer nach ihren Vorstellungen von Kompetenz gefragt. Es waren Teilnehmer, die mit Kindern arbeiten oder die Menschen ausbilden, die dann mit Kindern oder behinderten Erwachsenen arbeiten. Zwei Ergebnisse der Befragung fielen besonders auf. Zum einen waren die Fachkräfte nicht glücklich darüber, wie der Begriff Kompetenz genutzt wird, um die Praxis in Kindertagesstätten zu beschreiben. Zum zweiten verstanden die Teilnehmer mit sozialpädagogischer Ausbildung unter Kompetenz etwas ganz anderes als die anderen.
Die meisten der 50 Teilnehmer erklärten »Kompetenz« als »Maßstab« (»Benchmark«) für die Praxis. »Kompetent« zu sein heißt für sie, für ihren Beruf »fit« zu sein, »ohne Risiko in der Praxis einsetzbar« zu sein und »die Fähigkeit zu haben, Fertigkeiten, Wissen und Erfahrung kreativ und professionell zu nutzen, um Aufgaben zu erfüllen und Ziele auf akzeptablem Niveau zu erreichen – entsprechend den Erwartungen, die von der Agentur oder der Gesetzgebung vorgegeben werden«. Ein Teilnehmer erklärte, Kompetenz zeige, »dass du imstande bist, etwas zu tun, und das auch zeigen kannst. Denn nichts ist passiert, ehe es beschrieben worden ist«. Er fügte hinzu, ohne Aufzeichnungen sei die Arbeit unsichtbar, und erst »wenn du beschreiben kannst, was du tust, zeigt das, dass du kompetent bist«.
Wie sieht der Rahmen für eine an Kompetenz ausgerichtete Ausbildung aus?
Diese Kommentare spiegeln die besondere Orientierung an Kompetenz in Großbritannien wieder. In den 80er Jahren führte die Reform des Berufsausbildungssystems zu einem System von Zuerkennungen für alle, die ihre Kompetenz dadurch beweisen konnten, dass sie die national anerkannten »Berufsstandards« erreichten. Die Betonung lag dabei auf den Ergebnissen. Dieses System wurde in der Folgezeit weiterentwickelt, um alle Berufsausbildungen und Qualifikationen zu erfassen. In England, Wales und Nordirland gibt es jetzt einen Nationalen Qualifikationsrahmen mit einem System von verschiedenen Ebenen. Das beginnt beim Einstieg (Entry-Zertifikat über grundlegende Lebensfertigkeiten) und führt bis zum Niveau 8 (Studien bis zum Doktortitel). Heute geht es in der Definition von Kompetenz in der beruflichen Ausbildung größtenteils um die Leistung, die den vorher beschriebenen Standards und Niveaus entsprechen muss.
Im Jahre 2008 hat das Europäische Parlament die Idee eines Europäischen Qualifikationsrahmens am Beispiel des Modells aus Großbritannien übernommen. Es geht dabei um »acht Bezugsebenen, die beschreiben, was der Lernende weiß, versteht und zu tun in der Lage ist – seine Lernergebnisse –, unabhängig davon, wo eine bestimmte Qualifikation erworben wurde«. Wie bei der britischen Herangehensweise gilt die Konzentration auf Referenzniveaus und Lernergebnisse als Methode, die dazu führt, dass die »Bedürfnisse des Arbeitsmarktes nach Wissen, Fertigkeiten und Kompetenzen und die Angebote von Bildung und Ausbildung besser übereinstimmen«. Außerdem soll der Qualifikationsrahmen die Übertragbarkeit von Qualifikationen in der EU und innerhalb von EU-Staaten fördern.
Eine der sich herausbildenden Bedeutungen von »Kompetenz« meint die Leistung, gemessen an beschlossenen Minimalstandards. Aber teilen alle Fachkräfte in sozialen Berufen diese Auffassung? Einige der Teilnehmer meiner jüngsten Studie waren Studenten und Dozenten der Sozialpädagogik aus Dänemark und Deutschland. Sie arbeiten nicht mit einer Bewertung nach Kompetenz und vorgeschriebenen nationalen Standards und gehen anders an die Definition von »Kompetenz« heran. Sie erklären, Kompetenz sei »mehr als eine Fertigkeit«. Ein dänischer Dozent sagte, kompetent zu sein verbinde »das Wissen und die Fähigkeiten und Überlegungen, um etwas zu tun«. Es gehe darum, Kenntnisse mittels Nachdenken in effektives Handeln umzusetzen und dabei besonders dem sozialen Zusammenhang und allen möglichen Folgen des Handelns große Aufmerksamkeit zu widmen. Kompetent zu sein bedeute auch, sich selbst weiterzuentwickeln.
Ein anderer Dozent kommentierte das. Er erklärte, Kompetenz bedeute, »sich auf (die eigene) Kompetenz zu beziehen, über sie zu reflektieren und sie weiterzuentwickeln und imstande zu sein, sich auf andere zu beziehen und selbst etwas zu tun«. Kompetenz sei beispielsweise, »fähig zu sein, mit anderen zu kommunizieren, zu wissen, wie man mit unterschiedlichen Gruppen von Menschen kommuniziert – mit dem Personal, den Kindern, den Eltern« und »in der Lage zu sein, in die Praxis zu gehen und Wissen, Kompetenz und Werte zu entwickeln, sich persönlich und beruflich weiterzuentwickeln«.
Diese Aussagen über Kompetenz drücken eine ganz andere Herangehensweise aus und stehen der Schlussfolgerung eines OECD-Projekts näher, Kompetenz sei »die Fähigkeit, komplexe Anforderungen in einem bestimmten Zusammenhang zu erfüllen … (und) schließt die Aktivierung von Wissen, kognitiven und praktischen Fertigkeiten … ebenso ein wie Haltungen, Gefühle, Werte und Motivation …, ein ganzheitlicher Begriff, der kein Synonym für ›Fertigkeiten‹ ist«
In diesem Projekt, das von einer internationalen und interdisziplinären Expertengruppe entwickelt wurde, wird der Begriff der Kompetenz über seine begrenzte Auffassung (Konzeptualisierung) im gegenwärtigen Diskurs in Großbritannien hinaus erweitert. Stattdessen wird er so verstanden, dass es um die Aktivierung von Ressourcen innerhalb des Selbst in einem sozialen Umfeld geht.
Wohin führen unterschiedliche Auffassungen von Kompetenz?
Allgemein haben sich zwei Positionen zum Thema Kompetenz herausgebildet. Bei der einen geht es um Kompetenz als Organisationsprinzip bei der Bewertung der Leistung einer Fachkraft. Die zweite ist eine Möglichkeit, Fähigkeiten und Handeln auszudrücken, wobei das Individuum sowohl als verantwortlich für seine Individualität als auch als soziales Wesen in einer größeren Gruppe aufgefasst wird. Die britische Position – Kompetenz als Benchmark für Standards bei der Ausbildung und in der Praxis – sickert in den europäischen Rahmen ein. Man kann die Auffassung vertreten, dass das kontraproduktiv ist, da es die Bildung auf eine Weise an die Praxis knüpft, die die theoretische und praktische Entwicklung des Fachgebiets begrenzt und einschränkt. Gleichzeitig gibt es jedoch ein umfassendes Verständnis von Kompetenz in der Arbeit mit Kindern in den europäischen Ländern, die die professionelle und persönliche Entwicklung ausdrücklich an das theoretische Wissen eines Fachgebiets und an die Fähigkeit knüpfen, dieses Wissen in der Praxis umzusetzen.
Die Position aus Großbritannien führt, könnte man sagen, zu einer eher technischen Professionalität, die im Verhalten wurzelt. Die andere hingegen unterstützt eine reflektierende Professionalität. Können wir es vermeiden, das (umfassend kompetente) Kind mit dem (auf einer Kompetenz nach Minimalstandard beruhenden) Bade auszuschütten?
Claire Cameron ist Senior Researcher in der Thomas-Coram-Forschungs-Abteilung, Institute of Education, University of London
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Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe KINDER in Europa 15/08 lesen.
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