Gleichwürdig in Bewegung
Im Tanz zeigen sich alle Körper in ihrer Vielfalt. Vom Schulen der Selbstwahrnehmung bis hin zum Experimentieren mit dem Selbstausdruck, kann das Tanzen Kindern viel mehr bieten als nur das Erlernen einer Bewegungsabfolge. Für die Leiterin für therapeutischen Tanz und Tänzerin Anastasia Olfert ist das freie Bewegen ein wichtiger Bestandteil ihres Alltags geworden, da sie außerdem erfahren durfte, wie es ihrer Tochter dabei hilft, mit einer chronischen Krankheit umzugehen.
Ich werde oft gefragt, wie Tanz mit Kindern inklusiv gestaltet werden kann. Doch ich möchte diese Frage nicht beantworten, denn für mich sind Tanz und Bewegung für alle da. Wenn wir bereits vor dem Bewegungsangebot eine Schablone formulieren oder das Angebot labeln müssen, dann wird es direkt zu Beginn anstrengend, da wir glauben, wir müssten jetzt etwas ganz Neues kreieren, das enorme Herausforderungen mit sich bringt. Wenn wir inklusive Angebote machen müssen, also jemanden »miteinbeziehen«, dann sind der Ansatz und die Haltung, die dahinterstehen, für mich schon falsch. Wir sind alle hier, egal wie wir sind. Wir müssen nicht explizit mit einbezogen werden, wir alle gehören dazu.
Spielfreude an individuellen Möglichkeiten
Ich kenne das selber sehr gut: Die meisten sagen, sie könnten nicht tanzen, weil sie an bestimmte Schritte, Choreografien und genormte Körper denken. Deswegen fällt es vielen noch schwer, sich vorzustellen, wie Tanzen inklusiv sein kann. In meinen Workshops für Erwachsene steige ich deshalb mit den Sätzen ein: »Vergesst für die nächsten 90 Minuten alle Konzepte, die ihr bis heute über das Tanzen gelernt, gesehen und gehört habt. Es gibt kein Richtig und kein Falsch, denn wenn wir unsere individuellen Bewegungsformen und Qualitäten erwecken wollen, müssen wir unserem Körper folgen.«
Der Tanz, den wir kennen, basiert größtenteils auf Imitation. Die/der Lehrer:in zeigt uns eine Schrittfolge oder Tanzhaltung vor, und wir versuchen, diese so gut wie möglich nachzumachen. Dabei werden wir niemals das Vorgezeigte erreichen, da unsere Beine und Arme vielleicht kürzer sind als als die der anleitenden Person, die Rotation unserer Hüftgelenke in den Hüftpfannen mehr Raum für eine Drehung bieten und die individuelle Form unserer Wirbelsäule eine andere Ausrichtung und Organisation in unserem Körper benötigt als die der vorgezeigten Schrittfolge oder Tanzhaltung. Unsere Körper sind so vielfältig wie unsere Bewegungsqualitäten. Jede Zelle in uns ist divers, und alle Körper bewegen sich auf unterschiedliche Art und Weise. Das macht uns einzigartig in allem, was wir sind und tun. Deshalb sind auch alle Bewegungen ebenso »unique« wie wir selbst. Wenn wir die Erlaubnis bekommen, uns nach Lust und Laune zu bewegen, und dies auch noch in einem Raum gemeinsam mit anderen Menschen, entstehen unerwartete Freiräume und neue, noch unbekannte Bewegungsmomente.
Wir entdecken auf diese Weise unseren persönlichen Tanz, wobei wir mit Spielfreude neue, individuelle Möglichkeiten erproben und unseren eigenen Ausdruck finden. Durch unterschiedliche kleine Bewegungsaufgaben, die von der/dem Lehrer: in in den Raum gegeben werden, probieren wir aus, spielen mit den Bewegungen, die sich zeigen, folgen unseren Impulsen und machen das, was uns Spaß macht – so wie das Kind im »freien Spiel«. Kinder machen es von ganz allein, wenn wir Erwachsenen sie nicht stoppen.
Normen überwinden
Bei meiner Tochter wurde mit sieben Monaten eine Epilepsie im Rahmen des West-Syndroms/BNS-Epilepsie diagnostiziert. Das West-Syndrom gilt als therapieschwierig bis therapieresistent, das heißt, dass trotz Medikation Anfälle auftreten. Nach der Geburt von Aurora habe ich mich der DIN A 13 tanzcompany zugewandt. Sie ist international eines der wenigen Tanzensembles, das sich aus Tänzer:innen mit und ohne körperlicher Behinderung zusammensetzt. Die Erforschung und Sichtbarmachung der Bewegungsqualität vermeintlich »anderer Körper«, deren Diversität die Grundlage für die choreografische Arbeit bildet, markieren den künstlerischen Ansatz der Kompanie.
Das Ensemble hinterfragt Sehgewohnheiten und Norm-Ideale des zeitgenössischen Tanzes und bereichert ihn durch neue Impulse. Vermutete Grenzen werden in choreografischen Bildern aufgelöst. So arbeitet das diverse Tanzensemble in den Proben mit tänzerischen Improvisationsaufgaben. Dabei wird der Fokus auf individuelle körperliche Bewegungen und ihre besondere Ästhetik gelegt. Eine Pirouette (eine schnelle Drehung um die eigene Achse) mit einem Rollstuhl z.B. oder eine Schrittfolge mit einer Beinprothese nehmen wir sinnlich anders wahr als eine Pirouette, die auf einem Bein gedreht wird, oder eine Schrittfolge, die auf zwei Beinen getanzt wird.
Aurora lernt gemeinsam mit mir in der bewegungsreichen Atmosphäre mit unterschiedlichen Tänzer:innen die Diversität der Bewegungen kennen. Die Tänzer:innen nahmen sie bereits als Baby auf die Arme und tanzten zusammen mit ihr durch das Studio. Dabei waren die Möglichkeiten, wie sie Aurora durch das Tanzstudio bewegten, sehr individuell: Sie setzten sie zu sich auf den Rollstuhl, hielten ihre Hand im Tanz mit der Handprothese fest oder rollten mit ihr auf Rollbrettern durch den Raum. So erhielt Auroras Körper vielfältige Information über die Organisationen diverser Körpersysteme. In der Bewegung sind alle unsere Sinne – Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen – Teil dieser Wahrnehmung, und das Erfahrene auf allen Ebenen kann in den Körper integriert werden.
Anastasia Olfert, Dipl. Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin, Tänzerin, Choreografin, Tanz- und Bewegungsvermittlerin, Leiterin für therapeutischen Tanz. Sie arbeitet im Bereich Tanz- und Bewegungsvermittlung mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.
Kontakt
web: http://anastasiaolfert.com/
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/2024 lesen.