Vom Selbstporträt zur Selbstwahrnehmung
Im Stuttgarter element-i Kinderhaus Reinsburg bringt ein Künstler, der jetzt Erzieher wird, seine Expertise ein. Orkan Tan unterscheidet sich mit Glatzkopf, Bart und Tattoos optisch von den Kolleg:innen. Nachfragen der Kinder dazu mündeten in einem Selbstporträt-Impuls im Kita-Atelier.
»Warum hast du denn nur Haare unten am Gesicht und keine auf dem Kopf?«, fragt der fünfjährige Jannik* den Erzieher Orkan Tan beim Mittagessen. Die Frage stößt eine rege Diskussion in der Tischgruppe an – über Bärte, Haare und schließlich über das unterschiedliche Aussehen von Menschen im Allgemeinen. Orkan Tan ist nicht nur Erzieher, sondern auch Künstler und im element-i Kinderhaus Reinsburg in Stuttgart für die Bildungsbereiche »Kunst und Ästhetik« sowie »Soziales Miteinander« zuständig. Ihm kommt gleich eine Idee, wie die Gruppe am Thema weiterarbeiten könnte. Er schlägt vor, dass sie sich nach dem Essen im Atelier alle selbst malen.
Wie können wir uns selbst sehen?
Drei der Kinder aus der Tischrunde sind sofort Feuer und Flamme. Auch einige andere Kinder haben Lust auf den Selbstporträt-Impuls. »Was könnten wir denn nutzen, damit wir uns selbst gut sehen können?«, fragt der Erzieher zunächst. »Eine Kamera«, schlägt Marc vor. »Einen Spiegel«, ruft Marie. Dieser Vorschlag ist einfacher zu realisieren und die Kinder machen sich auf den Weg, um den Spiegel aus dem Rollenspielraum ins Atelier zu schaffen.
»Dann haben wir uns erst einmal ausführlich im Spiegel betrachtet«, sagt Orkan Tan. »Was gibt es alles im Gesicht? Augen und Mund fallen zuerst auf, dann die Nase und die Ohren. Auf Wimpern und Augenbrauen aber hatten die Kinder bislang noch nicht geachtet. Es war spannend für sie, diese Details zu entdecken. Sie haben sich direkt gefragt, wozu Wimpern und Brauen gut sein sollen. Gemeinsam fanden wir die Lösung: Sie schützen die Augen.«
Was Orkan Tan überrascht: »Den Kindern war nicht wirklich bewusst, wie un-terschiedlich sie aussehen. Sie staunten, als sie erkannten, dass sie blonde, braune oder schwarze Haare haben, dass ihre Augen blau, grün, grau oder braun sein können. Außerdem fielen ihnen die unterschiedlichen Farben der Haut auf. Dadurch sahen sie sich selbst und auch die anderen plötzlich mit anderen Augen.«
Die Haut wird braun statt rosa
Das schlägt sich in den Bildern nieder, die sie nun zu malen beginnen. Die Kinder entscheiden sich dafür, gewöhnliches DIN A4-Papier zu verwenden und mit Blei-, Bunt- und Filzstiften sowie Wachskreiden zu zeichnen und zu malen. Orkan Tan schlägt vor, das ganze Blatt mit dem eigenen Gesicht auszufüllen. Dann gibt es ausreichend Platz, um Details zu berücksichtigen. Marc ist skeptisch. Er schaut lieber erst einmal zu. Jannik legt los. Er zeichnet ein Oval für sein Gesicht. Doch er ist unzufrieden. Die Form ist recht klein geraten und sitzt in der unteren rechten Bildecke. Jannik greift nach dem nächsten Blatt und fängt neu an. »Erst beim siebten Versuch war er zufrieden und begann sein Porträt zu vervollständigen«, berichtet der Pädagoge. Die sechsjährige Amba, deren Familie aus Indien kommt, hat die Kopfform bereits aufs Papier gebracht. Energisch füllt sie sie nun mit braunen Strichen. »Bislang griff sie für die Hautfarbe – wie die meisten anderen auch – immer zu einem hellen Rosa«, sagt Orkan Tan. »Jetzt hat sie erkannt, dass diese Farbe für ihre Haut gar nicht passend ist.«
Sogar die Nasenlöcher
Lucia ist fasziniert von den Details, die sie im Spiegel in ihrem Gesicht entdeckt. Hingebungsvoll malt sie Augenlieder und Augenbrauen sowie die Nasenlöcher. Auch die Form ihrer Lippen erfasst sie genau. Jannik konzentriert sich aufs Wesentliche. Eines stellt er jedoch mit leuchtend gelbem Filzstift gut sichtbar klar: »Ich habe blonde Haare!« Marie beschäftigt sich intensiv mit dem Aussehen ihrer Augen. Mit ihrem Bleistift zeichnet sie Augenbrauen, Wimpern und Lieder. Wer ihr Bild genau betrachtet, erkennt sogar Sprenkel in der Iris der Augen. Farbe nutzt sie nur für ihre braunen Haare mit den roten Haarspangen und für ihre braunen Augen. Die Vorstellung, nur ihren Kopf zu zeichnen, und den Rest ihres Körpers einfach wegzulassen, behagt ihr nicht. Also kommen Hals, Rumpf und Gliedmaße noch unten dran. Auch hier legt sie Wert aufs Detail und zeichnet sogar das Marienkäfer-Motiv auf ihrem Shirt und die Rüschen an den Ärmeln. Das Selbstporträt des etwas jüngeren Marc fällt abstrakter aus. Auffällig große Augen aus konzentrischen Kreisen dominieren sein gezeichnetes Gesicht. Vielleicht hat auch er durch die Gespräche vorab mehr Details wahrgenommen als bisher.
Weitere Informationen:
• über die element-i Pädagogik und die element-I Kinderhäuser:
www.element-i.de
• zur Erzieher:innenausbildung an der Freien Dualen Fachakademie für Pädagogik (Stuttgart, Karlsruhe, Fellbach):
www.freiedualefachakademie.de
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 09-10/2022 lesen.