Fürsorge bei Jungen stärken
Das Erlernen von Männlichkeit bedeutet für Jungen besonders die Aneignung von Konkurrenz, Dominanz und Gewalt. Wie kann hingegen fürsorgliches Verhalten von Jungen bereits in der Kita gefördert werden? Daniel Holtermann untersucht das am Beispiel des Spiels mit Dinosauriern.
Bilder von Jungen und Dinos
Während einer Fortbildung im Rahmen des Projektes »ECaRoM – Förderung fÜrsorglicher Männlichkeiten in der frÜhen Erziehung und Bildung« für pädagogische Fachkräfte in der Kita sprachen wir Über Jungen. Eine Erzieherin berichtete: »Wenn ich umherschaue, finde ich die Jungen meistens in der Spielecke mit den Dinos. Wenn wir ein lautstarkes ›Rrroar!‹ oder ›Wuarg!‹ hören, wissen wir, dass sie sich die Dinos wieder totbeißen. Jeder möchte gern mit dem größtem Dino spielen, dem Tyrannosaurus Rex, weil der die anderen am besten beißen kann. So gibt es erst einen Streit zwischen den Jungen um den Tyrannosaurus Rex, und wenn der geklärt ist, werden die anderen Dinos vom Tyrannosaurus Rex gebissen. Der gewinnt immer, weil er der größte und gefährlichste ist. Ich frage mich dann oft, warum die Jungen nicht auf andere Spielideen mit den Dinos kommen. Es kann doch nicht sein, dass es immer nur um den größten und stärksten Dino geht.«
Dieses Beispiel eignet sich gut, um genauer zu schauen: Welche Bilder haben wir von Jungen – und von Dinos? Zuschreibungen bestimmter Eigenschaften passieren schnell. Die Verlockung ist groß, einfach festzustellen: Jungen – und niemand sonst – lieben das gewalttätige Spiel mit Dinos. Doch spielen wirklich alle Jungen so? Oder ist das ein Stereotyp? Es kann gut sein, dass einige Jungen vor allem diese Spielweise mit den Dinos zeigen, doch wahrscheinlich trifft das nicht auf alle zu. Es gibt bestimmt Jungen, die nicht gewaltvoll spielen, wie auch Mädchen, die das tun. Normalerweise sind die Spielweisen aller Kinder sehr unterschiedlich.
Spannend ist weiterhin, welches Bild von Dinos es gibt. In meinem Kopf tauchen vor allem Filme auf, in denen Menschen von Dinos gejagt werden und in denen die Urzeitechsen Fleischfresser sind. Dabei stammt das Wissen Über sie ausschließlich aus der Archäologie. Die Eigenschaften der Dinosaurier dichten wir ihnen heute an, ohne zu wissen, ob sie wirklich so waren. Aber auch hier ist es wahrscheinlich, dass sie sehr vielfältig waren: Es wird sowohl fleischfressende als auch pflanzenfressende wie auch fÜrsorgliche Dinos gegeben haben. Der Tyrannosaurus Rex muss Eier gelegt haben, und vielleicht hat er sie ausgebrütet und beschützt. Gab es vielleicht eine Familienbande, die zusammengehalten hat? Eventuell haben sich Papa und Mama T-Rex gemeinsam um den Nachwuchs gekümmert. Wir wissen es nicht – aber es könnte sein. Auf jeden Fall ist es gut, die Bilder von der Riesenechse nicht zu eng werden zu lassen. Einige Expert:innen vermuten sogar, dass der T-Rex ein Aasfresser war, kein Jäger.
Die Bilder im Kopf oder die Stereotypen, die wir zu bestimmten Begriffen haben, sind oft einseitig und beeinflussen, wie wir uns verhalten. Wir erlernen sie im Laufe des Lebens, und sie werden durch die Gesellschaft konstruiert. Das heißt auch, dass wir die Bilder bewusst machen und sie verändern können.
Fürsorglichkeit
Für ein besseres Verständnis ist eine Definition des Begriff Fürsorge wichtig. Er ist eng mit dem englischen Begriff »care« verwandt, den die Politikwissenschaftlerin Joan Tronto so definiert: »Auf der allgemeinsten Ebene schlagen wir vor, Fürsorge als eine Aktivität zu betrachten, die alles umfasst, was wir tun, um unsere ›Welt‹ zu erhalten, zu pflegen, damit wir in ihr so gut wie möglich leben können. Diese Welt umfasst unseren Körper, uns selbst und unsere Umwelt, die alle in einem komplexen, lebenserhaltenden Netz verwoben sind« (Tronto 1993: 103, übersetzt vom Autor).
Das heißt, zu Fürsorge gehören sowohl Selbstfürsorge und Sorge für andere Menschen als auch Sorge für die Umwelt. Weiter kann von bezahlter Fürsorgearbeit gesprochen werden, die in Fürsorgeberufen wie der Pflege oder Erziehung geleistet wird, und von unbezahlter Fürsorge vor allem im privaten Bereich in der Familie. Fürsorglichkeit zeigt sich schon bei Kindern: in Tätigkeiten wie Spielzeug aufräumen, Mahlzeiten vorbereiten, den Tisch decken, Freund:innen trösten, gärtnern, sich um (Haus-)Tiere kümmern, Unterstützung anbieten oder geben, um Konflikte gewaltlos zu lösen, andere Meinungen berücksichtigen, nicht nur die eigene. Sie zeigt sich in der Integration von Kindern, die »Außenseiter:innen« sind, und der Unterstützung eines anderen Kindes bei praktischen Handlungen, z.B. Schuhe binden.
Dr. Daniel Holtermann arbeitet bei Dissens – Institut für Bildung und Forschung e.V. in Berlin als Projektleitung bei ECaRoM. Seine Arbeitsschwerpunkte sind geschlechterreflektierte Pädagogik, geschlechtersensible Berufsorientierung und kritische Männlichkeitsforschung.
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 09-10/2022 lesen.