Über Gefühle und Geschlechterstereotype – auch in der Kita
Dass Jungs nicht sensibel und Mädchen nicht wütend sein dürfen, erfahren sie von Geburt an. Warum wir schreiende Mädchen anders behandeln als schreiende Jungs und warum wir lernen sollten, uns beim Thema Gefühle nicht von Geschlechtsstereotypen leiten zu lassen, beschreibt die Kleinkindpädagogin und Autorin Susanne Mierau.
Gefühle sind wichtig und erlaubt. Und zwar alles und für alle. Es gibt keine »guten« und keine »bösen« Gefühle, jedes Gefühl hat eine Berechtigung und braucht eine entsprechende Begleitung bei jedem Kind. Wie Kinder ihre Gefühle ausdrücken, ist dabei unterschiedlich. Manche Kinder sind lauter, manche Kinder sind leiser, manche offener, manche verschlossener. Dieser Ausdruck hängt wesentlich vom Temperament, aber auch von den Erfahrungen ab, die das Kind macht. Und damit sind wir bei einem wichtigen Punkt angelangt: Obwohl wir wissen, dass alle Kinder alle Gefühle haben und ausleben dürfen, gehen wir oft unterschiedlich mit diesen Gefühlsausdrücken um – und zwar unter anderem unterschiedlich je nach Geschlecht.
Alle Gefühle gehören dazu
Gefühle auszuklammern ist ungesund: Das Unterdrücken von Gefühlen kann langfristig negative Auswirkungen auf unsere psychische Gesundheit haben – das gilt sowohl für Kinder als auch für Erwachsene. Oft werden in Bezug auf unsere Kinder weniger die positiv bewerteten Gefühle wie Freude oder Überraschung als unerwünscht kommentiert – obwohl auch diese manchmal mit einem »Jetzt ist aber mal gut!« abgetan werden –, sondern vielmehr die von Außenstehenden als negativ bewerteten Gefühle wie Trauer, Angst, Ekel oder Ärger. Aber gerade auch diese als negativ bewerteten Gefühle sind ein Ausdruck unserer Wahrnehmungen: Wir nehmen eine Situation wahr, unser Gehirn kategorisiert sie und löst eine Reaktion in uns aus. Ein Gefühl, verbunden mit dem jeweiligen Ausdruck, ist also oft ein sinnvoller Schutz, beispielsweise wenn wir eine Situation als bedrohlich empfinden, das Gehirn Stresshormone aussendet und ein Gefühl der Angst entsteht, das der Körper mit entsprechenden Reaktionen anzeigt: Wir schwitzen, spüren einen Kloß im Hals, haben ein flaues Gefühl im Magen, vielleicht sogar das Bedürfnis, schnell auf Toilette gehen zu müssen. Gerade Kinder, die sich noch nicht gut selbst regulieren können, zeigen dann ein Bedürfnis nach Rückzug bzw. Schutz durch ihre Bezugspersonen oder auch Kampf. Ein insgesamt sehr sinnvolles System, das gewährleistet, dass unsere Bedürfnisse, die sich über Gefühle ausdrücken, beachtet werden.
Gerade die Wut
Ein Gefühl von besonderer Bedeutung ist die Wut, weil sie uns unsere schützenswerten Grenzen aufzeigt. Der Psychoanalytiker Prof. Dr. Manfred Cierpka beschreibt sie als Signal, um nach Kränkung, unangemessener Forderung oder anderer Übergriffigkeit wieder Distanz herzustellen und sich zu schützen.1 Durch die Regulation durch andere und durch Vorbilder lernen Kinder nach und nach, mit ihren Bedürfnissen und Gefühlen umzugehen. Dass Gefühle aufgrund von Geschlechtszuschreibungen ausgeklammert, gehemmt oder negativ bewertet werden, hat eine lange Tradition. Gerade am Beispiel von Ärger lässt sich das geschichtlich gut nachzeichnen: Auch heute noch wird der Begriff »Hysterie« gerne in Bezug auf Frauen verwendet. Aufgebrachte Frauen, auch Frauen, die sich politisch stark engagieren und mit energischem Ton Missstände anprangern, werden gerne als »hysterisch« bezeichnet. Hergeleitet werden kann der Begriff aus der Bezeichnung »Hystera«, griechisch für »Gebärmutter«. Zunächst wurde die Hysterie als Erkrankung der Gebärmutter bezeichnet: Hippokrates nahm an, dass eine Gebärmutter, die nicht ausreichend mit Samen »gefüttert« werde, hungrig im Körper der Frau umherwandert und sich schließlich im Gehirn festbeißen könne, was die Hysterie auslösen würde. Behandelt wurde diese vermeintliche Erkrankung mit Maßnahmen wie Eheschließung, Empfehlungen für regelmäßigen Geschlechtsverkehr, manuelle Massagen des Genitalbereichs durch Ärzte zur Beruhigung, woraus nach und nach der Vibrator entwickelt wurde, bis hin zur Klitoridektomie, der operativen Entfernung der Klitoris. Erst im 20. Jahrhundert wurde die Hysterie von der »American Psychiatric Society« aus der Liste der Krankheiten gestrichen. Was blieb, ist aber die über Jahrhunderte geprägte und weitergebene Angst der Frauen, als hysterisch zu gelten, und die gesellschaftliche Zuschreibung, dass Frauen schnell als hysterisch klassifiziert werden, wenn sie Wut und Ärger offen äußern.2
Genau das finden wir auch heute noch häufig im Umgang mit als Mädchen gelesenen Kindern: Wut und Ärger werden ihnen abgesprochen. Es wird daran appelliert, dass sie nicht so wütend sein sollen, dass sie doch bitte nachgeben sollten in Konflikten, schließlich »gibt die Klügere nach«. Mädchen, das denken wir so oft, gehören zum empathischeren Geschlecht. Sie sollten versorgend und fürsorglich sein.3 Ob Mädchen aufgrund genetischer Veranlagung oder durch Erziehung weniger Aggression zeigen, ist wissenschaftlich nicht ausreichend geklärt. Die Neurowissenschaftlerin und Psychologin Dr. Daphna Joel erklärt entsprechend, dass es Unterschiede in den Gehirnen von Frauen und Männern gibt, dass es aber in einer Gesellschaft, in der Mädchen und Jungen von Geburt an unterschiedlich behandelt werden, nicht mehr möglich ist, zu bestimmen, ob ein Verhalten angeboren oder Folge bestimmter Erfahrungen ist.4 Studien zeigen allgemein, dass Jungen offener physische Aggression zeigen und Mädchen eher indirekte Formen von Aggression wie verbale Verletzungen, Verleumdungen etc. bzw. körperlich reagieren bei Kontrollverlust.5
Unsere vorgefertigte Annahme davon, wie ein Kind seine Geschlechtsrolle ausfüllen soll, nimmt nicht nur Einfluss darauf, welche Spielzeuge wir ihm anbieten und welche Kleidungsstücke – gerne im Rollenspielkontext auch: »Nein, du kannst doch nicht den Prinzen spielen, du bist ein Mädchen« oder andersrum »Nein, du bist doch nicht die Prinzessin, du bist ein Junge!« –, sondern ganz maßgeblich auch auf den Umgang mit den Gefühlen und den Gefühlsäußerungen. Und der Umgang mit den Gefühlsäußerungen wiederum prägt das Bild des Kindes von sich selbst und seiner Rolle in der Gesellschaft. Aus Sätzen wie den erwähnten entsteht das Bild: Als Mädchen bzw. Frau darf ich nicht wütend sein, ich muss eher nachgeben, ich muss »lieb« sein. Diese verinnerlichte Annahme trägt sich fort und wirkt auf das eigene Wohlergehen – beispielsweise durch Selbstentwertung, Selbsteinschränkung, autoaggressives Verhalten – und darüber hinaus auf die Gesellschaft.
Susanne Mierau ist Dipl.-Pädagogin mit dem Schwerpunkt Kleinkindpädagogik, Familienbegleiterin und Autorin. In ihrem neuen Buch »New Moms for Rebel Girls«, das im März 2022 erscheint, setzt sie sich insbesondere mit Rollenklischees und der Position von Mädchen und Frauen in unserer Gesellschaft auseinander.
Kontakt
www.geborgen-wachsen.de
Buchtipp
Wie können wir unsere Töchter aufklären und stärken gegen das Patriarchat und seine Folgen? Welche stereotypen Denk- und Verhaltensweisen wollen wir ablegen? Susanne Mierau hat Themen wie Cybermobbing, Selbstwert und Selbstliebe und ein gutes Körpergefühl zusammengetragen und beschreibt, wie feministische und bedürfnisorientierte Erziehung aussehen kann. Gestützt auf pädagogische und psychologische Erkenntnisse sowie viele Beispiele von Mutter-Tochter-Beziehungen beschreibt Mierau, wie Mädchen konkret unterstützt und bestärkt werden können. Ein einfühlsames und kämpferisches Buch, das wir nicht nur für Mütter, sondern auch pädagogische Fachkräfte empfehlen können.
Susanne Mierau
New Moms for Rebel Girls
Unsere Töchter für ein gleichberechtigtes Leben stärken
Beltz 2022
ISBN 978-3-407-86712-4
EUR 19,00
1 Cierpka M. (2011): Faustlos. Wie Kinder Konflikte gewaltfrei lösen lernen. Freiburg im Breisgau
2 Mierau S. (2019): Mutter. Sein. Von der Last eines Ideals und dem Glück des eigenen Wegs. Weinheim, S. 72
3 Focks P. (2021): Starke Mädchen, starke Jungen. Genderbewusste Pädagogik in der Kita. Freiburg im Breisgau, S. 91
4 Joel D. (2021): Das Gehirn hat kein Geschlecht. Wie die Neurowissenschaft die Genderdebatte revolutioniert. München, S. 38
5 Cierpka M. (2011) S. 19
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/2022 lesen.