Vom Recht auf Freundschaft sind Kinder in Reggio Emilia tief überzeugt. Freunde sprechen miteinander, hören einander zu, teilen ihr Glück und haben Spaß. Dass ohne sie die Welt nur halb so spannend ist, erlebt die Atelierista Barbara Moser auch in Linz und anderswo.
Leo betritt das Atelier und sein Blick fällt auf Amelia, die mit ihm die Reggio-Kindergruppe besucht. Die Anderthalbjährige ist seine Gleichgesinnte. Nur zwei Monate trennen beide voneinander. Es ist eine Verbundenheit spürbar, weil Affinitäten vermutlich anziehend sind: Ihr Spielen, Denken und Handeln ähneln sich, obwohl sie sich erst seit einem Monat kennen. Amelia nimmt Leo an der Hand und führt ihn zum Lichttisch, auf dem weißes Papier klebt. Die kleine Kiste mit den Farbkreiden steht bereit und Amelia beginnt zu malen. Dabei sieht sie Leo mit großen Augen an: Willst du auch malen? Ich lade dich dazu ein! Hier hast du eine Kreide von mir. Vieles läuft über gegenseitige Beobachtung. Ein Kind beginnt eine Sache und das zweite reagiert mit einer darauf abgestimmten Handlung. Aber es bleibt nicht bei einer Reiz-Reaktions-Handlung, vielmehr entsteht ein dialogisches, symbiotisches Spiel mit Impulsen und Anregungen durch ein gleichaltriges Gegenüber. Gemeinsame Themen sind eine notwendige Bedingung für weiterführende freundschaftliche Szenen. Die Freude an geteilter Erfahrung und das damit ein-hergehende Gefühl von Verbundenheit durch Ähnlichkeit sind Voraussetzungen für weitere gemeinschaftliche Akte, die in eine Freundschaft münden.
Offenheit scheint eine bedeutende Ausgangsposition zu sein, wenn es um das Kennen- und Verstehenlernen und um den Weg der Freundschaft geht: Ich finde mein Gegenüber interessant, ich mag, was sie/er sagt und höre aufrichtig und gerne zu. Wir verstehen einander. Das ist weit weniger kompliziert, als wir Erwachsene oft denken, und braucht nicht mal viele Worte!
Leo und Amelia sprechen noch wenig in der uns gewohnten Symbolsprache, aber sie sprechen in den, wie wir es im Reggio-Ansatz nennen, 100 uns angeborenen expressiven Sprachen. Diese relationalen (von lateinisch »relatio«, zurücktragen, in Beziehung stehen) Sprachen entwickeln wir, ebenso wie unsere Identität, nicht im isolierten Vakuum, sondern innerhalb von Beziehungen – im stetigen Austausch mit anderen und mit der Welt. Die dialogische Freundschaftssprache des »Hin und Her« in kindlichen Beziehungsaktionen ermöglicht uns auch, das Kind näher zu verstehen: Leo z.B. mag es, dass Amelia ihm die Trinkflasche bringt, wenn er Unzufriedenheit bekundet. Er liebt es auch, wenn sie ihre Rosinen mit ihm teilt.
Jede Handlung ist eine Beziehungshandlung mit der Welt und jeder Ausdruck beinhaltet ein Mindset an Beziehungen mit Bedeutung und Sinngebung durch das jeweilige Kind. Seine Identität besteht nicht nur aus einer individuellen Persönlichkeitsstruktur, sondern auch aus kollektiv und kulturell geprägten Anteilen. Durch die Kongruenz, also die Übereinstimmung mit seinem menschlichen Gegenüber, erlebt es sich als Person mit aktiver Subjektivität und eingebettet in ein soziales Gefüge.
Begegnungen können sich gut anfühlen oder sogar besonders gut. Freundschaft aber braucht Zeit: Sie wächst aus der Auseinandersetzung mit dem Gegenüber über das Erleben von Verbundenheit, Ähnlichkeit, Sympathie und erste Zuneigung hinaus. Kinder erkennen, wer ein Freund, eine Freundin ist und dass Freundschaft aktive Beziehungspflege bedeutet. In »Ein Ausflug in die Rechte von Kindern«1 haben MitarbeiterInnen aus Reggio Emilia einige Perspektiven der Kinder zusammengetragen:
- »Kinder haben das Recht, Freunde zu haben, weil zusammen spielen schön ist. Alleine kann man nur wenige Spiele machen.«
- »Man kann nur jemanden zur Freundin haben, der auch deine Freundin sein will. Wie sollte das sonst gehen?«
- »Kinder haben das Recht, Freunde zu haben, sonst wachsen sie nicht so gut.«
- »Wenn ich einen Freund habe, der mich ärgert, dann habe ich das Recht, ihn zu wechseln.«
- »Es ist besser, ein großes Haus zu haben, weil dann viele Freunde hineinpassen.«
Die Achtsamkeit hinsichtlich Freundschaft gilt in Reggio-Einrichtungen nicht nur dem gesprochenen, sondern auch dem geschriebenen Wort. Deshalb gibt es Briefkästen für jedes Kind, um Mitteilungen an Freunde und Freundinnen zu versenden. Diese Mitteilungen sind dem Anschein nach einfach und banal, in Wirklichkeit jedoch entstehen sie im Versuchslabor eines langen und komplizierten Zusammenlebens. Die PädagogInnen Stefano Bonilauri und Tiziana Filipini nennen diese Gelegenheiten zur Erprobung kommunikativer Kompetenzen einen »offenen Kommunikationsraum, in dem sie sich selbst frei und lustvoll erfahren können.«2 Kommunikationssysteme wie installierte Briefkästen für den symbolischen und abstrakten Dialog mit großer Wertfreiheit intensivieren das Geben und Austauschen für ein stärkeres Bewusstsein von Zugehörigkeit und Sozialgefühl.
In der Publikation »Zärtlichkeit«3 der Pädagogin Carla Rinaldi erfahren wir, was die fünf- und sechsjährigen Kinder Laura und Daniele aus Reggio Emilia in einem solchen dialogischen Austausch bewegt: »Die Freundschaft mit Laura ist ganz anders, sie ist mehr … sie ist so so so fest, dass wir sie nie vergessen können. Sie ist sehr fest. Sie ist die festeste Freundschaft der Welt«, so spricht Daniele über seine Freundin Laura. Auch Lauras Worte repräsentieren ihre freundschaftliche Beziehung: »Daniele ist mein Herzensfreund. Ich bin die Freundin von Daniele, weil wir Freunde wurden, als wir Kinder waren.« Daniele und Laura schreiben über das Leben, die Geburt und das Glück. Sie zeigen emotionales Bewusstsein, offenbaren ihren inneren Gedankenreichtum, teilen Wissen, Träume, gemeinsame Projekte, Unterschiedlichkeiten und Gemeinsamkeiten. In den dialogischen Prozessen der Kinder erkennen wir ihre außergewöhnliche Fähigkeit, sich in den anderen hineinzuversetzen und ihren Wunsch, gefällig zu sein. Wir erkennen auch, dass sie der Freundschaft einen besonderen Wert geben und dieser irgendwie auch etwas mit einem Versprechen zu tun hat.
Barbara Moser ist Bildungswissenschaftlerin und Elementarpädagogin. Seit 2014 leitet sie das RE-Atelier/Creativ Lab & Art Space for Kids 0-4 im österreichischen Linz. Sie ist Gründerin und Managerin von ReggioBildung und Initiatorin von verschiedenen Reggio-Projekten.
Kontakt
1 Reggio Children (Hrsg.) (1998): Ein Ausflug in die Rechte der Kinder. Aus der Sicht der Kinder. Neuwied, S. 18f.
2 Bonilauri S., Filipini T. (1996): Mitteilungen. In: Reggio Children (Hrsg.): Hundert Sprachen hat das Kind. Neuwied, S. 173
3 Rinaldi C. (1995): Eine Geschichte von Laura und Daniele. In: Reggio Children (Hrsg.): Zärtlichkeit. Neuwied, S. 66
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/2021 lesen.