Schöpfung und Evolution erleben
Kinder interessieren sich mehr für Ursprungsmythen, als wir für möglich halten. Kommen wir aus dem Himmel, wie »Der kleine Tag« von Rolf Zuckowski oder aus Rabans Erdnuss? Andreas Münzer, Referent im Elementarbereich, und die Journalistin Jutta Gruber zeigen, dass Schöpfungsmythen und Evolutionstheorien jede Menge Anregungen zur Erkundung kindlicher Lebensfragen und Bedürfnisse enthalten.
»Du blöder Stuhl!«, schimpft Mara, nachdem sie sich wieder aufgerappelt hat. »Der hat mir ein Bein gestellt!«, empört sich die Vierjährige, während der Übeltäter einen ordentlichen Tritt von ihr abbekommt. »Warum hat er das getan?«, fragt sie sich. »Vielleicht, weil ich meine Regenjacke auf ihn gelegt habe? Hat ihn das gestört?« Erwachsene mag ihre Schlussfolgerung irritieren, doch für Mara ist sie das Ergebnis einer logischen Analyse von Ursache und Wirkung. Ihr Weltbild unterscheidet sich von unserem. Für sie können auch Dinge wie eine Tierfigur oder ein Stuhl ein Eigenleben besitzen, eine Seele oder eine Persönlichkeit. Ihr Denken und Handeln ist wie bei allen Kindern zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr von der sogenannten magischen Phase geprägt.
Weihnachtsmann, Osterhase, Elfen oder andere Naturgeister sind für sie ernst zu nehmende Wesenheiten und Träume reale Geschehen. Kinder sind in diesem Alter geborene SchamanInnen, GöttInnen, SchöpferInnen, ZerstörerInnen, HüterInnen und HeilerInnen. Ihr Wissen um Zusammenhänge verblüfft – dass Omas krank werden können, wenn sie am Wochenende keinen Besuch bekommen, und Wolken regnen, wenn man freundlich oder entschieden darum bittet oder ganz einfach, weil sie traurig sind. Von Begegnungen mit Naturelementen sind sie oft nicht nur fasziniert, sondern regelrecht ergriffen. Nicht wenige Kinder stellen Überlegungen an, wie all diese Wunder eigentlich entstanden sind. Oder sind sie vielleicht von jemandem gemacht worden? Kinder wollen wissen, ob die Henne oder das Ei zuerst da war und wie man mit der letztlich bleibenden Ungewissheit klarkommt. Es ist zentrale Aufgabe von Religion, Philosophie und Naturwissenschaft, darauf Antworten zu finden. Sie mit Kindern zu entdecken und zu reflektieren hilft, eigene Antworten zu finden, und die sind mindestens genauso spannend.
Henne oder Ei?
Insbesondere um die Zeit der Einschulung ist die Beschäftigung mit Schöpfungsmythen besonders wertvoll. Denn jetzt beginnen Kinder, sich aus der magischen Phase zu lösen. Vieles, was zuvor sonnenklar war, wird hinterfragt. Sind wirklich Monster unter dem Bett, die nur auf den geeigneten Moment warten, meinen Fuß zu packen? Werden sie es schaffen, wenn mein Sprung aus dem Bett nicht gelingt und ich nicht mit dem linken Fuß auf dem Teppich und dem rechten Fuß auf dem Parkett lande? Gibt es überhaupt Monster? Existieren sie vielleicht nur, wenn ich an sie glaube? Gibt es Gut und Böse? Ist alles, was eine Wirkung auf mich hat, existent, oder kann auch etwas eine Wirkung auf mich haben, was ich mir nur einbilde?
In vielen Kulturen finden sich Geschichten, die exakt diese Fragen behandeln. Manchmal kommen sich die ganz großen Fragen der Kinder und die ganz großen Fragen der Menschheitsgeschichte sehr nah. In ihnen wimmelt es von zornigen Göttern, Weltenbäumen, Schildkröten, die die ganze Welt in sich oder auf sich tragen und Regenbogen-schlangen, die Landschaften formen. Dieses reiche Material fällt bei Kindern auf fruchtbaren Boden. Es beflügelt ihre Fantasie und gibt ihnen Ideen zum Verständnis von kleinen und großen Zusammenhängen, also davon, was die Welt zusammenhält und uns Menschen, wenn wir mal Streit miteinander hatten oder jemand eine Regelverletzung begangen hat.
Spannend für sie ist zu erfahren, dass in etlichen Schöpfungsmythen, z.B. aus China und Japan, die ganze Welt tatsächlich aus einem Ei – einer Art kosmischem Welten-Ei – entsteht. In diesem Ei habe Chaos geherrscht, bis das Leichte, Kalte und Trockene (Yang oder das männliche Prinzip) nach oben stiegen und zusammen den Himmel bildeten und das Warme, Schwere und Feuchte (Yin oder das weibliche Prinzip) nach unten sanken und zur Erde wurden. Dort, wo Himmel und Erde sich berührten, entstanden die Götter und Göttinnen und die Menschen. Aus Indien wiederum kennen wir Brahma, den hinduistischen Schöpfergott. Bei ihm stand am Anfang, ähnlich wie beim christlichen Gott, das Wort bzw. ein Laut. Dieser Laut muss sehr besonders gewesen sein, denn er klang weiter als das Nichts und schuf Wasser und Wind. Der griechische Philosoph Aristoteles z.B. erkennt die Triebfeder allen Seins im Streben des Menschen nach Wissen. Diese insbesondere für PädagogInnen nicht uninteressante Erkenntnis beschreibt er vor fast zweieinhalbtausend Jahren in seinem Werk »Metamorphosen«.
Andreas Münzer ist Diplomdesigner, Dokumentarfilmer u.a. für das Goethe- Institut und Fortbildner im Elementarbereich. Ein Schwerpunkt ist die Verknüpfung von naturwissenschaftlichen und religiösen Inhalten. Gemeinsam mit der Journalistin Jutta Gruber spürt er Impulse für die Elementarpädagogik auf.
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11-12/2020 lesen.