Zeit für Übergänge
Üblicherweise denken wir bei »Übergang« an die Phase zwischen Kita und Schule oder an die Zeit der »Eingewöhnung«, also dem Ankommen in der Kita. Doch im Grunde besteht jeder neue Tag aus Übergängen und Eingewöhnungen. Welche Bewältigungsstrategien haben Kinder für kleine und große Veränderungen? Beobachtungen und Reflexionen der Achtsamkeitslehrerin und Montessori-Pädagogin Dörte Westphal.
Der gestrige Tag verlief zu aller Zufriedenheit. Es war warm und sonnig. Doch heute ist etwas anders. Tobias möchte dieselben Sachen anziehen, hat aber noch nicht bemerkt, dass es ist über Nacht kälter geworden ist. Dem Hinweis der Mutter, dass heute Kleidung benötigt wird, die warm hält und vor Erkrankungen schützt, mag er nicht folgen. Er verlangt nach der kurzen Hose und dem T-Shirt mit dem Apfel drauf. Her damit und zwar sofort! Sonst gibt’s Geschrei! Wow, was für ein Tagesbeginn. Alles gute Zureden und Überzeugen-Wollen hilft nicht.
Tobias ist völlig unverständlich, weshalb sich seine Kleiderordnung ändern soll. Viele Wochen ohne die blöde warme Jacke und den super uncoolen Pullover liegen hinter ihm – und jetzt soll er die wieder anziehen? Uns Erwachsenen ist sonnenklar, was Wetterumschwung bedeutet, und wir stellen uns – meist – emotionsfrei und zielstrebig darauf ein. Vielleicht haben wir auch weniger uncoole Anziehsachen oder freuen uns sogar auf ein bisschen Abwechslung. Kinder jedoch gewöhnen sich oftmals so sehr an eine Jahreszeit, dass es ihnen unmöglich erscheint, sich umzustellen. Sie schätzen Gewohnheiten und die mit ihnen einhergehenden Verlässlichkeiten. Veränderungen können sie als lästig empfinden und für Übergänge mehr Zeit benötigen als wir Erwachsene.
Sich Übergänge – wieder – bewusst zu machen, kann ziemlich spannend sein. Die bedeutsamsten sind wahrscheinlich die, die unser Leben unmittelbar und intensiv bestimmen oder gar verändern. Zum Beispiel eine Partnerschaft einzugehen oder zu beenden, die erste Schwangerschaft, der Verlust eines Familienmitgliedes oder Freundes oder ein prägnanter Umzug. Wir wissen, dass Veränderungen von solcher Dimension nicht immer einfach sind. Insbesondere wenn sie mit Herausforderungen einhergehen, die uns nicht nur stärken, sondern auch verunsichern, können wir mitunter sogar recht viel Zeit für die »Eingewöhnung« brauchen.
Vom Kind aus empfinden und gestalten
VertreterInnen der Entwicklungspsychologie sprechen von Übergängen meist mit Bezug auf den Wechsel des Kindes von der Familie in die Kita oder von der Kita in die Schule. Der Fachbegriff ist Transition, was sich vom lateinischen »trans« (hinüber) und »ire« (gehen) ableitet.
Es ist wunderbar, dass sich WissenschaftlerInnen wie der Psychologe Wilfried Griebel und die Frühpädagogin Renate Niesel in den letzten Jahren mehr mit Eingewöhnungen beschäftigen und die Bedürfnisse des Kindes in den Mittelpunkt stellen. Ihre Einsichten zur Gestaltung einer vom Kind aus empfundenen Eingewöhnung finde ich großartig und meiner Erfahrung nach auf jede Art von Übergang anwendbar – auch auf die kleinen, von uns kaum mehr bewusst erlebten und von der Kindheitspädagogin Dorothee Gutknecht »Mikrotransitionen« genannten Übergänge.
Dass Kinder Übergänge individuell gestalten, erleben wir morgens zur Bringzeit. Während das eine Kind wie von der Tarantel gestochen in seinen Raum rast, verhält sich ein anderes zögerlich oder bedächtig, blickt auf seine Sachen an der Garderobe zurück, vielleicht um sich zu vergewissern, ob noch alles da ist oder ob bis zu seiner Rückkehr alles dort so bleiben kann. Noch ein anderes Kind eilt vielleicht schnell noch mal in die Arme der Eltern oder will auf gar keinen Fall in der Kita bleiben. Dementsprechend brauchen Kinder möglicherweise täglich eine andere Begleitung.
Liebe denkt nicht
Häufig erlebe ich, wie Kinder von ihrem Spiel ganz und gar absorbiert sind. Wenn wir sie dann zum Essen oder zur Geschichtenzeit rufen, reagieren sie entsetzt: »Schrecklich! Wieso soll ich jetzt aufhören zu spielen?«, »Ich habe keinen Hunger« oder »Ich will keine Geschichte hören« sagen sie dann. Sie sehen keine Notwendigkeit, vom geliebten Spiel abzulassen. Warum soll man etwas beenden, was einem große Freude macht oder woran man gerade intensiv arbeitet?
Für Wechsel im Tagesablauf des Kindergartens oder auch Zuhause bringen Kinder häufig wenig Verständnis auf – zumal Veränderungen für sie meist schwerer zu verarbeiten sind als für uns Erwachsene. Aber bekannt sind uns diese Schwierigkeiten auch ... Wenn das Telefon genau in dem Moment klingelt, wenn der Fernsehfilm besonders spannend ist oder jemand ins Zimmer stürzt und ganz dringend irgendeine Information braucht, obwohl wir gerade in inniger Verbundenheit Glasur auf die schönste Vase aufbringen, die wir je getöpfert haben. Der Pädagoge Loris Malaguzzi nennt diese Art von Versunkenheit auch Verliebtsein und beschreibt, dass in jenen Momenten des Verliebtseins in ein Material, in ein Objekt besonders wertvolles Lernen stattfindet. Wer möchte im Zustand des Verliebtseins irgendetwas ändern? Da kann der Bauch noch so knurren ... Wir bemerken es nicht einmal.
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11-12/2020 lesen.