In den Jahren 2016 und 2017 forschte Hoa Mai Trần im Projekt »Alltagserleben von jungen Kindern in Unterkünften für geflüchtete Menschen« am Institut für den Situationsansatz (ISTA/INIB). Als Projektabschluss erschien ihr eine Publikation mit und für Kinder bedeutsamer, als eine die sich ausschließlich an WissenschaftlerInnen wendet. Dabei heraus kam die Idee zum Erzählband »Wir Kinder aus dem Flüchtlingsheim«.
Der Kinderrechtsausschuss forderte bereits 2009, dass die Meinungen von Kindern für Entscheidungsfindungen oder zur Vorbereitung von Gesetzen eingeholt werden sollen. Dennoch werden Kinder und Jugendliche – und ganz besonders die mit Flucht- oder Migrationserfahrung – häufig von Erwachsenen und leider oft auch von professionellen BegleiterInnen bevormundet. Wie erklären Sie sich, dass die am Kinderbuchprojekt beteiligten Mädchen während des Fachtages keineswegs vulnerabel erschienen?
Zunächst einmal: Kinder sind nicht einfach vulnerabel, sondern werden dazu gemacht! Mir ist wichtig, den Fokus vor allem auf den Lebenskontext zu verschieben wird, der Kinder diskriminiert und »vulnerabel« macht. Bei geflüchteten Kindern sind dies z.B. die fehlende Privatsphäre in Unterkünften, die eingeschränkte Familienzusammenführung, das Leben in Duldung und die rechtlichen Einschränkungen, die sich direkt und indirekt auch im Alltag der Kinder niederschlagen. Ob wir unsere Kompetenzen und Stärken leben können oder nicht, hängt auch von den Möglichkeiten ab, die eine Gesellschaft eröffnet oder verwehrt. Die Mädchen aus der Lesung haben leider erfahren, dass für sie »andere Rechte« gelten als für viele andere Kinder, dass sie kein »echtes« Haus haben dürfen oder mit Security leben müssen. Kinder aus Flüchtlingsheimen erleben, dass man sie anders behandelt, dass sie z.B. auf das Anderssein reduziert und deswegen in der Schule gemobbt werden. Viele entmutigt es, wenn andere von Urlaubsaktivitäten erzählen, während sie selbst im Heim »feststecken«. Dass die Mädchen während der Lesung wenig »vulnerabel« wirkten, liegt vielleicht auch daran, dass sie diese Art der »Normalität« nicht akzeptieren wollen und hinterfragen lernen. Sie haben bewusst nicht auf die Tränendrüse gedrückt, weil sie kein Mitleid wollen, sondern Veränderung.
Die Kinder nehmen in den von ihnen in »Wir Kinder aus dem Flüchtlingsheim« erzählten Geschichten starke Rollen ein.
Ja. das stimmt! Auch dort wollen sie vor allem zeigen, dass sie weitaus mehr sind, als was Menschen vielleicht denken, wenn sie an »Flüchtlingskinder« denken. Ein Kind mit Fluchterfahrung hat wahrscheinlich verschiedene schwierige Erfahrungen gemacht. Vielleicht hat es beim Überqueren des Mittelmeeres sein Kuscheltier im Wasser verloren oder erlebt, dass seine schwangere Mutter das Geschwister verlor als sie sich in Haft in einem sogenannten »sicheren Drittstaat« befanden. Schwierige Erfahrungen können verletzbar machen, das sollten wir den Kindern auch nicht per se absprechen. Fatal wäre jedoch, sie als »Opfer« zu betrachten und auf ihre Fluchterfahrung zu reduzieren. Sie sind Kinder, die dazugehören wollen – auch zu Deutschland.
Haben Sie – wie es der Geschäftsführer der Deutschen Liga für das Kind Jörg Maywald fordert – den Kindern zugehört und sie ernst genommen?
Das ist eine interessante Frage. Nur zuhören reicht nicht aus. Damit sich Kinder – dasselbe gilt für Erwachsene – gehört und ernstgenommen fühlen, müssen wir ihnen und ihren Anliegen Raum geben. Das verlangt die Einsicht, dass wir nicht wissen, was sie brauchen und die Bereitschaft uns selbst und unsere Anliegen zurückzunehmen.
Sogar das Anliegen eine Publikation mit ihnen zu realisieren?
Ja, sogar das. Wir haben während vieler Treffen über ganz andere Themen gesprochen, weil das für die Kinder wichtiger war. Oder wir waren Eis essen oder haben für die Klassenarbeit geübt. Manchmal hatten die Kinder einfach keine Lust, am Kinderbuch weiter zu machen, wollten lieber über einen »Scheiß-Tag« reden oder einfach mal kurz Ruhe haben, weil das Geschwister in der Nacht nicht geschlafen hatte. Das war o.k. und ich finde das super, dass die Kinder da auch ehrlich waren und sich den Raum für ihre Bedürfnisse genommen haben.
Hoa Mai Trần ist Kindheitspädagogin, Bildungs- und Erziehungswissenschaftlerin, politische Bildungsreferentin zu Migration, Rassismus und Flucht und Asyl, sowie Fortbildnerin am Institut für den Situationsansatz (ISTA) und am Sozialpädagogischen Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg (SFBB).
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11-12/19 lesen.