Den Winter draußen und drinnen erleben
Winter ist die beste Zeit für Stubenhocker? Nein, finden die Kinder und Fachkräfte einer Frankfurter Kita. Der Dokumentarfilmer und Fortbildungsreferent Andreas Münzer begleitet sie bei Expeditionen in der kalten Welt draußen und beim Weiterführen im Warmen. Gemeinsam erkunden sie ihre Heimat am Verlauf eines Baches und feiern Karneval, das verrückteste und bunteste Fest im Jahreskreis.
Schnee und Sonne locken uns am frühen Morgen nach draußen. »Wie das glänzt und funkelt« ruft mein Neffe Leo. Fasziniert von den vielen Glitzerpunkten auf der weißen Schneedecke greift er mit beiden Händen zu. Er formt das puderige Material – so gut es mit den dicken Handschuhen möglich ist – behutsam zu einem Klumpen. »Ein Schneeball«, sagt er stolz und ich frage mich, ob ich jetzt besser das Weite suchen sollte. Doch Leo interessiert etwas ganz anderes als vermutet. Er dreht und wendet den Ball, dessen Glänzen im Spiel von Licht und Schatten kommt und geht, dicht vor seine Augen und dann an seine Wange, auf der sich zarte Tröpfchen bilden. Wir nehmen den Schneeball mit nach Hause und untersuchen ihn dort mit der Lupe, bis nur eine Pfütze bleibt.
Kinder wollen draußen sein, um den Winter mit allen Sinnen zu erleben. Kalte Außentemperaturen lassen zwar keine langen Expeditionen zu – doch welches Kind möchte seine Erlebnisse von einem Moment auf den anderen abbrechen? Deshalb sollten sie ihre Außenerfahrungen – wie Leo und die Kinder der »Kita Villa Kunterbunt« in Frankfurt Sossenheim – auch im Winter drinnen weiterführen können.
Wo sind wir?
Der Bach fließt in der Nähe der Kita. Es ist so kalt, dass wir beim Sprechen unseren Atem sehen können. Alle Kinder stehen dick eingepackt an den beiden Uferseiten. Harman entdeckt an der Böschung eine Eisschicht und bricht ein Stück davon ab. Mit den Worten »Das nehme ich mit!«, will er es in seine Jackentasche stecken. Mathias äußert Bedenken: »Eis schmilzt doch, wenn es warm wird!« Harman zieht seinen Handschuh aus und legt das Eisstück auf seine Hand. Als es zu schmelzen beginnt und sichtlich kleiner wird, steckt er es in einen der Eimer, die wir vorsorglich zum Sammeln der Funde mitgebracht haben. Von der anderen Seite des Baches rufen die Kinder herüber: »Hallo IHR da drüben!« Von unserer Seite erwidert Harman grinsend: »IHR seid drüben!« Andere stimmen ihm lebhaft zu. Flussabwärts verbindet ein Steg die beiden Ufer. Mit großer Freude wechseln die Kinder ein ums andere Mal die Seiten des Baches und drängeln sich dabei jedes Mal auf dem schmalen Steg. Das macht auch den ganz Kleinen Spaß.
Könnte es sein, dass die Kinder diese – im Grunde simple – Aktion deshalb so ausgiebig betreiben, weil sie eine Situation mal von der einen und mal von der anderen Seite sehen und erleben? Werden sie ihre Erfahrung, sich an diesem Ort wiederholt neu zu orientieren, in der Einrichtung weiter führen? Ja, sie werden.
Einige malen das Gedränge an den beiden Ufern des Bachs und auf der Brücke. Cem baut sie aus Stühlen, Bambusstangen und Balken nach und sofort balancieren Kinder darüber – wie an der echten Brücke von beiden Seiten, inklusive Stau und viel Gelächter. Chiara und Selina stellen den Bach unter der Brücke mit blauem Stoff nach und verteilen an dessen Rändern mitgebrachte Funde. Steine, Blätter, Gras und Äste.
Harmans Eis ist – als wir es uns anschauen wollen – längst in seinem Eimer geschmolzen. Die Enttäuschung ist groß, doch ich habe eine Idee: »Was passiert wohl damit, wenn wir den Eimer wieder in die Kälte stellen?« »Da wird Schnee draus«, meint Matthias. »Nein, wenn es kalt ist, wird Eis daraus!« hält Paul dagegen. »Woher weißt Du das, Paul?«, frage ich ihn neugierig. »Der Teich im Stadtpark. Da sieht man kein Wasser mehr, da ist jetzt Eis.« Harman ist anderer Meinung: »Es bleibt Wasser, nur kälter!«
Was sich bewegt, friert nicht
Die anderen Kinder reagieren ungläubig. Deshalb schiebt Harman eine Erklärung nach: »Weil es vom Bach kommt. Da ist es Wasser. Und Eis gibt es dort ja nur am Rand!«
Gleich am nächsten Morgen drängen sich die Kinder um den Eimer, der die vergangene, klirrend kalte Nacht draußen verbrachte. Das Wasser ist vollständig zu Eis gefroren und Harman – zu Recht – irritiert. Warum gefriert das Wasser im Eimer und im Teich vom Stadtpark, im Bach aber nicht? »Weil sich das Wasser im Bach bewegt, friert es nicht!« meint Paul. Und Lina erkennt sofort einen Zusammenhang: »Ich friere auch nicht, wenn ich mich bewege!«
Unsere Diskussion nimmt eine interessante Wendung: Wieso fließt das Bachwasser? Wo kommt es her und wo fließt es hin? Wo kommt unser Bach her? Der Plan für unsere nächste Expedition – genau das herauszufinden – ist geboren und fügt sich wunderbar in das laufende Jahresprojekt der Kita ein: Die, für etliche der Kinder noch recht unbekannte neue Heimat entdecken. Sich dafür an einem Bach- oder Flusslauf zu orientieren, kann sehr spannend sein und bietet zudem allen Kindern, auch den noch nicht so Ortskundigen, dieselben Startvoraussetzungen. Das Erforschen einer Stadt oder eines dörflichen Umfelds beginnt man am besten in der unmittelbaren Nachbarschaft der Kita. Ein nahegelegenes fließendes Gewässer ist dafür sehr geeignet.
Frau Holle und Väterchen Frost
Lina und Cem, die auf der Suche nach der Quelle voran preschen, stoßen schnell und unvermittelt auf Hindernisse. Zäune behindern unsere Uferwanderung, Gestrüpp wird undurchdringlich. Ein Bach ist nun mal keine Straße, der man stets folgen kann. Nicht selten müssen wir umkehren und immer wieder zum Bach zurückfinden. Bis wir schließlich aufs freie Feld gelangen, wo uns ein frostiger Wind empfängt. Unser Bach reicht jetzt wie eine gerade Schnur bis zum Horizont.
Leider tut uns Frau Holle – Märchengestalt und heidnische Erdgöttin – immer seltener den Gefallen, Schnee von oben auf die Landschaft herab zu schütteln. Stattdessen begießt uns Petrus, der christliche Wetterpatron, auch im Winter vermehrt mit Regen. Mit Kindern eine weißgepuderte Zauberlandschaft zu erkunden und auf Schneefeldern Tierspuren wie Schriftzeichen auf Papier zu erkennen, ist selten geworden. Dennoch zieren wir die Kitafenster gern mit den klassischen Symbolen dieser Jahreszeit, dem Schneemann und dem Eiskristall und lesen den Kindern Geschichten von Frau Holle vor oder von ihrem männlichen Pendant aus Osteuropa, dem Väterchen Frost. Seit der russischen Revolution übernimmt er dort als personifizierter Winter die Aufgabe des Nikolaus, allerdings nicht in rotem sondern in blauem Gewand und ist auch in Ostdeutschland bekannt. Im Westen des Landes kennt man den eisigen Wintergeist unter dem Namen Hoppeditz oder Nubbes zumindest noch vom Karneval, wo er zum Winterende unter großer Anteilnahme von Groß und Klein verbrannt wird.
Andreas Münzer ist Diplomgrafiker und Dokumentarfilmer u.a. für das Goethe Institut und seit 2004 gemeinsam mit Udel Best Fortbildner und Referent im Elementarbereich. Ein Schwerpunkt ist die Verknüpfung von naturwissenschaftlichen und religiösen Inhalten.
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/19 lesen.