|
Wie viel dürfen Kinder wirklich? Teil 1
Partizipation in der Kita sollte eigentlich bedeuten: Hier bestimmen und entscheiden Kinder über jede ihrer Aktivitäten mit. Dass in der Praxis jedoch oft mehr über Kinder gesprochen und entschieden wird statt mit ihnen, zeigt die Erziehungswissenschaftlerin Caroline Ali-Tani anhand teilnehmender Beobachtungen.
Partizipation scheint ein konzeptioneller und pädagogischer Anspruch zu sein, den die meisten Fachkräfte benennen, wenn sie nach Schwerpunkten oder Orientierungen ihrer pädagogischen Arbeit gefragt werden. Weil die theoretische Bedeutsamkeit von Partizipation nur wenig über die Praxis aussagt, überzeugte ich mich mittels teilnehmender Beobachtung selbst davon, ob, wie und wo Partizipation konkret umgesetzt wird.
Gelebte Partizipation müsste sich in Kitas als ein von Kindern gestalteter und geprägter Ort zeigen, wo in jedem Raum und bei jeder Aktivität deutlich wird: Hier bestimmen und entscheiden die Kinder mit. Diese individuelle, idealisierte Vorstellung wird in der Realität durch die Verantwortung jedoch oft eingegrenzt, die Erwachsene für Kinder tragen oder andere Gründe, weshalb Erwachsene Entscheidungen für Kinder übernehmen. Im Rahmen meiner teilnehmenden Beobachtung befragte ich Kitaleiterinnen danach, wie sie selbst ihre Kita beschreiben würden und was ihre Kita ausmacht. Obwohl ich das Thema Partizipation nicht explizit abfragte, antworteten mir viele ähnlich wie diese Leiterin:
»Wir arbeiten sehr gut im Team und unterstützen uns gegenseitig, tauschen uns aus, sprechen uns ab und ja: Für uns ist die Partizipation von Kindern sehr wichtig … ähm … Rituale sind uns wichtig, auch der Morgenkreis oder auch noch nachmittags nochmal ein Stuhlkreis, zur Geburtstagsfeier … und wichtig ist auch die Ruhephase am Mittag.«
Rituale und Strukturen auf der einen Seite und Partizipation auf der anderen Seite. Beide Aspekte wurden von den meisten Fachkräften als wichtige Grundelemente ihrer pädagogischen Arbeit benannt. Doch es gelingt nicht immer, sie in der pädagogischen Praxis miteinander zu vereinen. Deutlich wird dies in der folgenden typischen Szene aus einem Morgenkreis, die ich in der Kita, deren Leitungskraft mir zu-vor Partizipation als grundlegend für ihre Arbeit beschrieb, beobachtete:
In der Käfergruppe beginnt der Morgenkreis wie immer um halb zehn. 15 Kinder und zwei Erzieherinnen sitzen im Kreis. Eine der Erzieherinnen holt die Namensliste der Kinder und liest die Namen nacheinander vor, um die Anwesenheit zu prüfen. Jedes Kind, das aufgerufen wird und anwesend ist, ruft kurz: »Ja!« Anschließend wird ein Guten-Morgen-Lied gesungen und die Kinder sollen den heutigen Wochentag benennen. Danach sagen alle noch gemeinsam einen Wochenspruch auf, bei dem alle Tage nacheinander genannt werden. Da heute Montag ist, bedeutet dies für die Käfergruppe, dass sie vormittags, aufgeteilt in zwei Kleingruppen, nacheinander zum Turnen gehen. Die Erzieherin erzählt, dass Lina, ein Mädchen aus der Gruppe, am Wochenende Geburtstag hatte und sie sich deshalb im Vorfeld Kinder aussuchen durfte, mit denen sie gemeinsam als Erstes in die Turnhalle möchte. Vor dem Morgenkreis hat die Erzieherin Lina nach den Kindern gefragt und diese auf einem Zettel aufgeschrieben. Nun will die Erzieherin die Liste mit den Namen, vorlesen, die Lina genannt hat , damit die erste Gruppe zum Turnen gehen kann. Lina unterbricht sie jedoch und sagt: »Nein! Ich möchte es sagen!« Die Erzieherin lehnt es ab und antwortet: »Nein! Ich lese es vor, sonst vergessen wir noch jemanden!«
Ist das ein Morgenkreis, in dem Partizipation und Teilhabe gelebt wird, wie es die Leitungskraft in Bezug auf ihre Einrichtung beschrieben hat? Müsste ich allein aus dieser Situation heraus Partizipation definieren, so erscheint mir der einzige annähernd partizipative Aspekt der zu sein, dass Lina sich aussuchen darf, wer mit ihr zusammen zum Turnen geht, allerdings auch nur, weil sie Geburtstag hatte, d.h. genau einmal im Jahr. Diese Situation ist im Zusammenhang mit Partizipation insofern spannend, als dass sie zwei Aspekte hervorbringt. Zum einen: Kinder haben eine Meinung und Bedürfnisse und können diese äußern!
Lina sagt ganz klar zu der Erzieherin, dass sie die Kinder gerne selbst nennen möchte, mit denen sie in die Turnhalle möchte. Ihr ist es wichtig, was gerade im Zusammenhang mit ihrem Geburtstag verständlich ist. Zum anderen wird aber durch die Reaktion der Erzieherin deutlich, welche Barrieren der Partizipation entgegenwirken: Die Erzieherin scheint sehr stark an klaren Strukturen und Absprachen festzuhalten. Die Kinder, die Lina ihr genannt hat und die sie aufgeschrieben hat, d.h. die Turngruppen, die im Vorfeld festgelegt wurden, sollen bestehen bleiben. Außerdem – und das ist in diesem Zusammenhang noch bedeutsamer – hat die Erzieherin einen defizitären Blick auf Lina. Sie traut ihr nicht zu, die Namen im Morgenkreis noch einmal zu nennen. Wenn sie Lina diese Aufgabe überlassen würde, statt selber die Liste vorzulesen, »vergessen wir noch jemanden«, wie sie sagt.
Dabei scheint das eigentliche Anliegen in den Hintergrund zu geraten: Es geht um Linas Geburtstag! Selbst wenn Lina ein Kind »vergessen« würde, was wäre so schlimm daran? Es geht doch darum, dass Lina sich wünschen kann, wer mit ihr in die Turnhalle geht. Wenn sie im Morgenkreis andere Kinder benennt, als vorher gegenüber der Erzieherin, wäre das kein »Vergessen«, sondern das situative Bedürfnis Linas in Bezug auf ihre SpielpartnerInnen.
Caroline Ali-Tani M.A. arbeitet als Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Paderborn im Arbeitsbereich »Inklusive Pädagogik« insbesondere zum Thema Inklusion und Vielfalt in Kindertagesstätten, vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung und Wahrnehmung von Vielfalt in der frühpädagogischen Praxis.
Kontakt
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11-12/17 lesen.