Elementare ästhetische Bildung als hochschuldidaktische Herausforderung
Im Rahmen einer Vorlesungsreihe zum Thema »Sammeln, Ordnen und Präsentieren« an der Universität Osnabrück vermittelte Prof. Dr. Stefan Brée einen Einblick in seinen Ansatz einer ästhetischen Hochschuldidaktik für kindheitspädagogische Bildungsbereiche an der HAWK Hildesheim. Dem folgenden Beitrag liegt dieser Vortrag zugrunde.
Sammlungen sind ein zentraler Bestandteil des Konzepts der »ästhetischen Werkstatt« und des »ästhetischen Labors« im Studiengang »Bildung und Erziehung in der Kindheit«. Sie sind Teil eines übergreifenden didaktischen Konzeptes, das im zweiten Teil des Beitrags erläutert wird. Beginnen möchte ich mit einer künstlerischen Sammlung und ihrer Rezeption.
Die künstlerische Sammlung
Das Foto zeigt einen Ausschnitt aus der Arbeit von Rafael Rheinsberg, die er 2013 in der Kunsthalle Krems ausgestellt hat. Ihr Titel: Die Seele der Dinge. Wir sehen eine komplexe Sammlung industriell hergestellter Metallscheiben, Ringe, und konischer Zylinder – vermutlich Bestandteile großer Maschinenanlagen und Motoren –, die großzügig verteilt, aber geometrisch streng auf der glatten Oberfläche des Bodens angeordnet sind. Rheinsberg thematisiert die Geschichte besonderer Orte und ihrer kulturellen Bedeutung, indem er Alltagsmaterialien oder Fundstücke ihrem dem ursprünglichen Kontext herauslöst und sie in einer ästhetisch prägnanten Form rekonstruiert.
Die künstlerische Transformation als Bodeninstallation bedient sich gestaltpsychologischer Effekte in einem ausgewogenen Verhältnis von Ordnung und Komplexität. Eine große Menge ähnlich und gleich runder Objekte bilden ein gleichförmiges Muster, das uns durch die strenge Ordnung gleicher Abstände in einem rechtwinkligen Raster erscheint: ein visuelles Angebot zum Wahrnehmen und Denken. Der Blick schweift horizontal, vertikal und diagonal über das Feld. Vergleichend, mehrfach die Richtung wechselnd, manchmal verweilend, dann wieder nach Erklärungen suchend – aber anders als bei Sammlungen im Technik- oder Naturkundemuseum. Wir finden keine Kommentare, die auf Themen, Geschichte, Namen oder Funktionen verweisen.
Der gleichermaßen offene wie strukturierte Präsentationsrahmen besitzt einen Bedeutungsüberschuss, den wir sinnlich spüren, bevor wir ihn in Worte fassen können. Kategoriale Vorstellungen über Form, Material, den möglichen Gebrauch bilden sich. Oder wir genießen die Situation einer Sammlung metallischer Objekte und als Spiel im Möglichkeitsraum unserer Fantasie.
Es gibt zahlreiche Künstler_innen, die Materialien sammeln. Solche Sammlungen erinnern mich an das elementare Sammeln und Gestalten von Kindern. Beim Sortieren von Material lernen sie nicht nur ihre Umwelt kennen, sondern eignen sie sich expansiv und gestaltend an. Das Wissen, das dabei entsteht, bildet nicht nur kognitive Muster und Vorläuferkompetenzen für mathematisches Denken oder die Sprache. Sammeln, Ordnen und Strukturieren sind auch der Ausgangspunkt für ästhetisches Empfinden als bildnerisches Denken und Verhalten. Damit bin ich beim Thema und bei der Frage:
- Warum beschäftigen sich Kinder so leidenschaftlich mit ungewohnten Materialien? Welche Wirkung entfalten diese Materialien?
- Was haben Künstler_innen und Kinder gemeinsam? Was können wir daraus für die Bildungsarbeit mit Kindern lernen?
- Welche theoretischen Ansätze und didaktischen Modelle greifen die Komplexität ästhetischen Verhaltens von Kindern auf?
- Wie rekonstruiert man kindliche Perspektiven im Spannungsfeld ästhetischer Erfahrung etwa als entdeckendes und forschendes Lernen?
Wie Kinder lernen
Kinder lieben es, Phänomene in ihrer Umgebung zu entdecken und zu untersuchen. Sie nehmen ihre soziale und ma-terielle Umwelt mit allen Sinnen wahr, lernen eigenständig und individuell durch Bewegung, Spiel und Interaktion. Nachhaltiges Wissen entsteht weniger durch Instruktion als durch Selbstbildung. Zufällig auftretende Phänomene werden neugierig registriert, Materialien erprobt, Abläufe untersucht und interpretiert. Beim systematischen Untersuchen des Materials mit einem in der Knete steckenden Stift entdeckt ̈ein Kind funktionale Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung ebenso wie die Möglichkeit Material zu manipulieren. Wir erkennen typische Verlaufsformen des entdeckenden Lernens, des Experimentierens und des Problemlösens. Verstehen heißt entdecken (Bruner).
Ein zweijähriges Mädchen zeichnet mit einem Filzstift auf Glas. Wir sehen, wie Bewegungsformen als Schwing- und Kreiskritzel zu einem ikonischen Raum verdichtet werden – ein sinnunterlegtes Kritzeln1, eine spielerische Erprobung grafischer Formen durch mitführendes Begreifen des Stiftes, durch visuelles Erfassen ikonischer Schemata in einer raum-erschließenden Anordnung. Gestaltend und imaginativ erfasst das Mädchen den Zusammenhang von Bewegung, Spur und Form im zweidimensionalen Raum. Denken und Wissen bilden sich im Wechselspiel von sozialer und leiblicher Interaktion, im Spannungsfeld von inneren und äußeren Bezügen, von Fantasie und Realität. Für Bruner sind handlungsbetonte und zeichenartige Handlungsformen eine wichtige Voraussetzung für symbolisches Denken wie die Sprache. Die Beispiele zeigen typische Strukturmomente ästhetischer Erfahrung als entdeckendes Lernen und schöpferisches Denken in der Kindheit.
Die Phänomenologie des schöpferischen Denkens
Der Umgang mit elementaren Materialien und Phänomenen ist neben der Interaktion mit Bezugspersonen der Schlüssel zu didaktischen Konzepten von Fröbel bis zur Reggio-Pädagogik. Phänomenologische und gestalttheoretische Ansätze zeigen, wie Materialien auf uns wirken und wie in der leiblich-wahrnehmenden Auseinandersetzung mit der dinglichen Welt Sinn, Kultur und Sprache entstehen. Wir lernen nicht nur etwas über die Dinge, sondern vor allem mit den Dingen und durch die Dinge: Sie lösen etwas aus in uns, sie sprechen uns an, sie sind neben unseren sozialen Beziehungen die Grundlage unserer Entwicklung.
Anregende Umgebungen bilden für Kinder einen Aufforderungskomplex. Materialien sind zunächst etwas zu etwas für jemanden.2 In den ersten Lebensjahren erleben Kinder die dingliche Welt ereignisartig und neu. Sie haben das Bedürfnis fortwährend mit dem symbolischen Überschuss ihrer Umgebung zu spielen, um die Welt kennen zu lernen und Sinn zu (er-)finden. In der Analyse von Künstler_inneninterviews zeigt Brater, wie bildnerische Prozesse verlaufen und welche Strukturmerkmale sie besitzen. Die Künstler_innen sprechen von einer offenen »Interaktion« mit dem Material, in der sich überraschende, nicht vorhersehbare Lösungen ergeben. Das Material wird spielerisch handelnd erfahren, es »antwortet«, »ordnet sich unter« oder »stellt Fragen«. Im Umgang mit dem Material, bei dem bewusste und unbewusste Wahrnehmungszustände einander ablösen, wird neue Bedeutung entdeckt und gestaltet.3
Künstler_innen und Kinder arbeiten aus jeweils unterschiedlicher Perspektive spielerisch mit dem Appell der Dinge. Und: »Die Erfindungskraft einer Kultur hat sehr viel damit zu tun, wie viel von der Kindheit wach gehalten wird.«4 Unser Thema bewegt sich also nicht nur im pädagogischen Feld, sondern berührt die Grundlagen unserer Kultur.
1 Richter 1999
2 Waldenfels 1994, Stieve 2008
3 Brater 2010
4 Waldenfels 2000, S. 180
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 04/14 lesen.