»Vorsicht! Die nächste Stufe ist nicht ohne!« Eine gebieterische Handbewegung Professor Schlembachers lässt mich innehalten. »Mir wäre lieber, wir übten das vorher. Heben Sie kurz Ihren Fuß an, markieren Sie die Körperhaltung beim Aufsetzen des Fußes und verlagern Sie das Gewicht – ein Mal, zwei Mal, drei Mal… Jetzt können Sie unbesorgt weitergehen!« Gekonnt erklimme ich nach dieser kurzen Trainingseinheit weitere Stufen der Institutstreppe. Schlembacher lächelt: »Sehen Sie, so vorbereitet, haben Sie es fehlerfrei geschafft.«
»What Hanschen not learns…«
Man könne unsere kleine Übung durchaus als eine gedankliche Vorbereitung auf unser heutiges Thema begreifen, erläutert mir der seit kurzem hornbebrillte Wissenschaftler, während wir zum Treffen mit einer Expertengruppe eilen, mit der Schlembacher sein neuestes Forschungsvorhaben durchführt: »What Hanschen not learns…« Es geht darum, die Anschlussfähigkeit der Stufen unseres Bildungssystems zu erhöhen.
Die »Gruppe« besteht aus drei Personen unterschiedlichen Alters, Geschlechts und Formats: Herta Dohmann ist Kita-Leiterin. »Aus Luckenwalde und aus Leidenschaft«, setzt sie sogleich hinzu. Professor Zaußler ist als Alt-Germanist mit dem Schwerpunkt Neo-Linguistik am Frühphilologischen Institut der Universität zu Helmstedt tätig. Adele Ungemach arbeitet seit vielen Jahren als Oberstudienrätin am Gymnasium St. Johanna in St. Augustin. Alle drei eint ein Problem, das Zaußler umgehend darzulegen beginnt: »Immer wieder erweist sich ein Gros der Studienanfänger auf die elementarsten Anforderungen, welche nun mal der universitäre Rahmen einem jungen Menschen abverlangt, nicht dergestalt vorberei…«
»Ich kürz mal ab«, sagt Frau Dohmann. »Ejal, ob Uni oda Schule oda Kita – is imma ditselbe Lied: Watt se solln, wenn se kommn, dit könn se nich. Und watt se könn, wenn se kommn, wolln wa nich. Oda?«
Mit leiser, irgendwie resigniert klingender, aber dennoch vernehmlicher Stimme ergänzt Frau Oberstudienrätin: »Wir hatten das Gefühl, dass die Heranwachsenden in der vorherigen Bildungseinrichtung – in unserem Fall die Grundschule – nur ungenügend auf kommende Anforderungen vorbereitet werden. Das ist doppelt ungerecht, denn wir tun genau dieses ständig, sonst würden wir ja nicht immer zu unseren Lernenden sagen müssen…«
Nun sprechen alle drei im Chor: »Wir müssen das jetzt aber üben, denn später…« – »in der Grundschule«, »in der Uni«, »im Berufsleben«, sagt jeder sein Verslein, bevor sich die Gruppe wieder volltönend vereinigt – »… wird das von euch verlangt!«
Schwungübungen im Kindergarten statt diesem ewigen Freispiel, eine wegweisende Fünf Minus statt dieser Kuschelpädagogik in der Grundschule und unlösbare Aufgaben im Leistungskurs als Vorbereitung auf die Uni – was ist angesichts dieser altbekannten Formen der Vorbereitung neu am Ansatz, den Schlembachers Gruppe mit dem Namen »Prä-Pä« als Kurzform für »Präparationspädagogik« etablieren möchte?
»Unser Team arbeitet daran, dieser Form der vorausschauenden Didaktik endlich den Platz zu verschaffen, den sie schon immer verdiente, und ihn inhaltlich auszuweiten«, ereifert sich Schlembacher. Frau Ungemach fällt ihm ins Wort: »Bisher war es doch immer ein Tabu, in diesen Kindergärten robuste Vorschularbeit mit Arbeitsblättern und spielerischem Stillsitztraining zu wagen und in den Schulen die Notenschraube etwas anzuziehen, um auf den kommenden Druck vorzubereiten. Was meinen Sie, wie viele aufrechte Erzieherinnen und Grundschullehrer aus Angst vor Stigmatisierung heimlich, wenn die Bildungsprogramm-Fuzzis wegsehen, sauberes Ausschneiden mit den Kindern trainieren, weil sie es als Gewissenspflicht begreifen, dafür zu sorgen, dass unser Volk keine Ansammlung von An-der-Linie-vorbei-Schneidern wird?«
Zustimmend nickt Professor Zaußler und ergänzt, Leidtragende seien erstens die Kinder, weil die ja traditionell in unseren Bildungsdiskussionen diese Rolle übernähmen, zweitens die Eltern, die in Eigenregie leisten müssen, was Schule und Kita viel besser können, nämlich: Ihre Kinder auf bevorstehende Härten vorbereiten. Drittens litten auch zahlreiche Papiere darunter: »Sie glauben nicht, wie schlampig sogar Studierende heutzutage ausschneiden!« Zur Bekräftigung lässt Zaußler seine Faust auf den Tisch sausen, was den Folien an die Wand werfenden Beamer irritiert.
Schlembacher räuspert sich verlegen und erklärt nun ohne mediale Unterstützung: »Die Vorgehensweise unserer Gruppe war anfangs reine Handarbeit. Zunächst mussten wir unsere Lehrpläne umstrukturieren. Doch das war leichter, als gedacht: Man musste nur die Inhalte des nächst höheren Bildungsplans in den vorherigen Plan übertragen und ›Vorbereitung auf…‹ davor setzen. Grundlegend war auch unser Gedanke, den Bildungsprozess sozusagen vom Ende her aufzurollen.
Gewöhnlich geht man ja immer von den Potenzialen des Kindes aus, dabei ist es andersherum viel sinnvoller: Was brauchen wir denn? Unsere Hochschulabsolventen kommen mit den Anforderungen des Berufslebens nicht klar? Gut, dann muss genau das in der Präparationspädagogik vermittelt werden. Professor Zaußler bietet beispielsweise in seinem Vorberufs-Seminar elementare Techniken für wichtige Standardsituationen des Berufslebens an – zum Beispiel die Übung ›Erledige eine sinnlose Aufgabe, ohne nachzufragen‹ oder ein Training im Profi-Duckmäusern. Ich kann Ihnen sagen: Die Begeisterung ist riesengroß, schon allein bei Professor Zaußler! Und seine Studenten werden auch bald merken…«
Ehe ich nachfragen kann, referiert Schlembacher begeistert weiter: »Was in der Oberschule die Vorbereitung in der AG Uni ist, in der das Umherirren in verschachtelten Bildungsinstitutionen geübt wird, ist in den Grundschuljahren die AG Abiturvorbereitung, in der die Kinder das Einlassen auf garantiert lebensferne Inhalte trainieren. Im Kindergarten gibt es auch viel zu tun: Zettel ohne Eselsohrbildung in der Postmappe transportieren oder pünktlich zur vollen Dreiviertelstunde austreten zu müssen…
Unsere Frau Dohmann weiß, was die Einführung der Benotung im Kindergarten gebracht hat: So eine Vier Minus in Playmais-Blumenbau oder Schneeflockentanz ist kein Zuckerschlecken für die zarte Seele eines Vierjährigen, sicher. Aber später muss der junge Mann auch damit klarkommen! Und wo sonst, als in der Vorkindergarten-Gruppe der Krippe, ist Zeit, sich schon mal auf basale Inhalte des Kindergartens vorzubereiten, um beim ersten Herbst-Projekt einen besseren Start zu haben?« Frau Dohmann nickt: »Hätt ick nich besser formulian könn.«
Ich allerdings bin skeptisch. Geht durch all diese Vorbereitung nicht Zeit für das Spiel verloren, das ja nicht ganz unwichtig sein soll? Bewusst provokativ schieße ich ein Frage-Torpedo ab: »Spielen Sie etwa Bildung gegen das Spiel aus, Herr Schlembacher?«
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 10/11 lesen.