Unser Weihnachtsbaum begann schon bald nach den Festtagen zu nadeln. Wenn ich heimlich einen Zuckerkringel naschen wollte oder hinter dem Baum auf allen Vieren nach Verbotenem angelte, verrieten mich die Nadeln auf den Ärmeln des Pullovers.
Wir schmückten den Baum meist am 6. Januar ab. Also musste ich nicht ewig auf das Plündern warten. Meine katholische Freundin hingegen musste bis zum 2. Februar – Lichtmess – ausharren. Bevor aller Schmuck wieder in Kisten, Kästen und Kartons verschwand, verabschiedete ich mich von jedem der beseelten Schmuckstücke, die nun ohne mich in der Dunkelheit ihrer Verpackungen zwölf Monate vor sich hin dämmern mussten: die Weihnachtskugeln, Strohsterne, Engelanhänger, Glöckchen und schillernden Vögelchen mit wippenden Schwänzen, die bemalten Schaukelpferdchen, die großen und kleinen Goldpapiersterne, die von Jahr zu Jahr knittriger wurden, und die von Wachsresten verkleben Kerzenhalter. Manchmal blieben Kerzenstummel übrig. An langen Winterabenden verschmolzen wir sie in einer Konservenbüchse und trugen das Wachs mit Pinseln auf Stoff oder feste Papiere auf: nachweihnachtliche Kunstwerke.
Auf dem Weihnachtsteller herrschte um diese Zeit bereits gähnende Leere. Ich konnte es nämlich kaum erwarten, die begehrten Süßigkeiten nach den vielen Tagen der Selbstbeherrschung, der Versuchung und der sündhaften kleinen Verfehlungen endlich von ihren Fäden zu befreien und zu verputzen: Schokokringel mit bunten Perlen, Zuckriges, Marzipan, Nougatgefülltes und Krokantiges. Alles wurde treulich geteilt. Aber die Heimlichkeit schmeckte köstlicher.
Der arme, magere Baum wurde zu Brennholz zerhackt. Wenn das Feuer ihn in Asche verwandelte, gehörte Weihnachten der Vergangenheit an.
Was liebte ich diese Zeremonie! Ich durfte kokeln und zündeln, ausprobieren und experimentieren – mit allen Sinnen. Es russte und rauchte, zischte, krachte und knisterte. Funken stoben in den Nachthimmel, in einer Flugbahn vereint oder auseinanderspringend, tanzende Feuerwerke, beängstigend und heiß, bis das Feuer in sich zusammenfiel und nur Glut übrigblieb.
Das Farbenspiel war unvergleichlich. Von Violett bis zu gleißendem Weiß, von Purpur bis zu Feuerrot – die Farben vereinten sich, trennten sich und bäumten sich wie wilde Tiere auf. Begleitet von grandioser Musik, ganz ohne Dirigent und dennoch im eigenen Rhythmus.
Ich erinnerte mich an all diese Bilder aus meiner Kindheit, als ich kürzlich ein traditionelles Weihnachtsbaumverbrennen miterlebte, in einem kleinen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern. Die Feuerwehrleute versuchten, den riesigen Bäume-Stapel mit dem Gasbrenner anzuzünden, und erzeugten dabei dicken Rauch, der in allen Grautönen gen Himmel zog.
Das Weihnachtsbaumverbrennen ist ein Fest für die Dorfbewohner. Sie sagten mir, dass sie sich den ganzen langen Winter über kaum sehen, und wünschten einander ein gutes neues Jahr.
Das wünsche ich meinen Leserinnen und Lesern auch.
Dagmar Arzenbacher
www.meinweihnachtsbaum.de
Hier kann man sich weltweit einen Überblick zum Thema »Weihnachtsbaum« verschaffen.
www.wunschbaum.de
Vielfältig sind die Versuche, Bäume nicht nur als Bestandteile der natürlichen Umwelt, sondern als eigenständige Wesen mit besonderen
Eigenschaften zu betrachten. Diese Seite erläutert und illustriert die schier unerschöpflichen symbolischen und ästhetischen Bedeutungen der Bäume. Neben Baum-Fotografien und Darstellungen künstlerischer Ansätze enthält sie Texte zu symbolischen und brauchtümlichen Themen, unter anderem zum Weihnachtsbaum.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11-12/10 lesen.