Das Lernen feiern, hieß die Serie, in der Sibylle Haas für Betrifft KINDER über ihre Studienreise nach Neuseeland berichtete. Inzwischen besuchten die neuseeländischen Gesprächspartnerinnen verschiedene Städte in Deutschland. Mitten in den Sommerferien kamen u.a. am 17. Juli 2010 50 Erzieherinnen und Kitaleiterinnen auf Einladung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) nach Frankfurt, um sich in einem Workshop mit drei Expertinnen aus Neuseeland aus erster Hand über das Konzept der »learning stories« zu informieren. Bernhard Eibeck und Gesine Kulcke berichten.
Ende der 1990er Jahre wurde in Neuseeland ein neues Curriculum für die frühkindliche Bildung – »Te Whariki« – entwickelt. Damit wurde ein grundlegender Wandel im Bildungsverständnis eingeleitet. Ging man zuvor davon aus, dass die Entwicklung eines Kindes sein Lernen bestimmt, ist man heute der Überzeugung, dass sein Lernen für seine Entwicklung maßgeblich ist, denn es folgt keinem stringenten Plan entwicklungspsychologisch erklärbarer Schritte, sondern ist ein komplexer Vorgang, der sich im Wechselspiel mit anderen Menschen, Gegenständen und an verschiedenen Orten vollzieht. Kinder leben nicht in fachspezifischen Segmenten, die man in curriculares Lernen zerlegen kann. Lernen ist situationsbezogen und folgt dem jeweils individuellen Tempo und den eigensinnigen Interessen des Kindes. Wissenschaftlich ging man also den Schritt von einer psychologischen Entwicklungstheorie zu einer soziokulturellen Theorie des Lernens.
Margaret Carr von der University of Waikato in Neuseeland entwickelte zu dem neuen Kita-Bildungsplan eine Methode, mit der frühkindliche Bildungsprozesse erfasst werden können: »learning stories«. Mit diesem Beobachtungsverfahren können Fähigkeiten und Lerndispositionen von Kindern erkannt werden. In einem vierjährigen Modellprojekt des Deutschen Jugendinstituts (DJI) wurden daraus die »Bildungs- und Lerngeschichten« entwickelt. Die GEW führte dies weiter und entwarf mit dem »Bildungsbuch« eine Methode, die konsequent an den Interessen der Kinder orientiert ist und alles vermeidet, was Lernen normiert und in Leistungskataloge zwängt.
Im Juli 2010 besuchte eine Gruppe von Fortbildnerinnen und Fachberaterinnen aus Neuseeland Deutschland, um das Konzept der frühkindlichen Bildung und den Ansatz der »learning stories« vorzustellen. Auf Einladung der GEW nutzten 50 Erzieherinnen und Kitaexperten die Gelegenheit, sich aus erster Hand zu informieren. Einen Tag lang standen Alison Brierley, Lorraine Sands und Julie Killick Rede und Antwort.
Für Alison Brierley entsteht der Spaß an Lerngeschichten so: »Man folgt den Kindern auf ihren Wegen.« Lorraine Sands konkretisierte das Vorgehen: »Wir brauchen keine Kinder, die vorgefertigte Schablonen ausschneiden können. Wir brauchen Kinder, die ihre Interessen kennen und erfahren haben, dass sie sich selbst weiterentwickeln können.« Es geht nicht um curricular festgelegte und zu erreichende Lernziele, sondern um das Herausbilden von Lerndispositionen. Wesentlich dafür sind Kompetenzen und Grundhaltungen wie »Interesse zeigen und engagiert sein«, »Bei Herausforderungen und Schwierigkeiten standhalten«, »Mit anderen Menschen kommunizieren«, »In der Lerngemeinschaft mitwirken«. Kinder sollen nicht zurechtgebogen werden und die Ziele anderer Menschen erfüllen. Es geht um ihre eigene Identität und Persönlichkeit.
Man müsse sich grundsätzlich mit der Frage auseinandersetzen, welche Art des Lernens wir am Beginn des 21. Jahrhunderts wollen, denn in 20 Jahren werden die Kinder Berufe ausüben, die es heute noch nicht gibt. Aber sie brauchen heute Kompetenzen fürs lebenslange Lernen, das keine Aufgabe für die Zukunft ist, sondern jetzt beginnt, in dieser Stunde – und immer wieder neu. Deshalb steht am Ende jeder Lerngeschichte die Frage: »Whats next?« Sie ist nicht so zu verstehen, dass man mit den Kindern die Lernschritte für die Zukunft vereinbart. Gemeint ist das, was unmittelbar das Nächste ist, also das Naheliegende.
»Learning stories« verändern die Profession der Erzieherin. Die Sicht auf die Ressourcen der Kinder macht optimistisch und fordert Erwartungen heraus. Das ist ein Ansporn für alle. »Learning stories« verändern auch die Kinder. Sie sehen sich als Lernende und sind stolz darauf.
Auf die Frage, welche Rahmenbedingungen man für »learning stories« brauche, sagte Julie Killick, das Wichtigste sei, dass das Team einer Einrichtung eine Lerngemeinschaft bilde. »So wichtig die Zuwendung zum Kind ist – ebenso wichtig ist die Zuwendung der Erzieherinnen zueinander. Es gibt Erzieherinnen, die gut schreiben können, andere nicht. Sie sollen nicht auf das Schreiben verzichten, sondern den Mut haben, es dennoch in ihrer eigenen Weise zu tun, denn es gibt keine objektiven Lerngeschichten. Es geht nicht um richtig oder falsch, sondern um Eindrücke, Reflexionen und Gefühle.«
Die Antwort auf die Frage, was man tun könne, wenn es im Team Kolleginnen gibt, die sich an den Lerngeschichten nicht beteiligen wollen, fiel ausgesprochen kurz aus: »Dann arbeiten wir mit den anderen Kolleginnen.«
Von besonderem Interesse war für die deutschen Erzieherinnen die Zusammenarbeit mit den Eltern. Die Eltern, so Lorraine Sands, seien die eigentlichen Experten für ihre Kinder. Erzieherinnen seien pädagogische Profis, könnten zwar vieles erklären, seien aber nur Beistand im Erziehungsprozess der Kinder, der wesentlich und elementar von der Beziehung zwischen Vater, Mutter und Kind geprägt sei. »Jede Familie, auch sozial benachteiligte und bildungsferne, will das Beste für ihr Kind. Wir«, so Lorraine Sands, »stehen nicht über den Eltern, wir stehen ihnen zur Seite.« In den Lerngeschichten lesen viele Eltern das erste Mal etwas Positives über ihre Kinder. Deshalb sei es gerade für benachteiligte Kinder so wichtig, dass sie unterstützende »learning stories« bekommen, also keine Rückmeldungen darüber, was sie nicht können oder schlecht gemacht haben.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 10/10 lesen.