Zur Neuausgabe des »Struwwelpeter«, verfasst von dem berühmten Kinder-, Jugend- und Gesellschaftspsychiater Dr. Michael Hinterwoff
Na, ist auch bei Ihnen endlich angekommen, dass Kinder durch »demokratische« Erziehung zwangsläufig zu klein- und später zu großformatigen Tyrannen werden?
»Wir arbeiten jetzt nicht mehr nach Reggio und Montessori«, sagen viele verängstigte Pädagogen derzeit, »sondern nach Hinterwoff.« Der Konzept-Wechsel vereinfacht die pädagogische Arbeit übrigens: Mag das Kind auch hundert Sprachen haben – von Ihnen hört es ab jetzt nur klare Ansagen. Und aus »Hilf mir, es selbst zu tun« wird: »Du tust das jetzt – oder ich werde dir helfen, Freundchen!«
Der neue Fixstern am Himmel der Pädagogik strahlt heller denn je zuvor: Nach drei Tyrannen-Büchern versuchte sich der ehrgeizige Autor nun an der Neuausgabe eines historischen Stoffes von Heinrich Hoffmann. Achim Kniefel präsentiert exklusiv Leseproben aus Hinterwoffs »Der Struwwelpeter oder Warum man kleine Tyrannen schon an der Frisur erkennt«.
Der Fall Peter
Vor mir steht Peter, ein Sohn aus einer anständigen, gutbürgerlichen Familie. Doch der achtjährige Junge macht einen äußerst ungepflegten Eindruck: lange, schmutzige Fingernägel, ungekämmte Haare mit Dreadlockbildung. Auf Nachfragen erklärt die Mutter, der Junge wolle nun einmal weder waschen noch Nägel schneiden oder Haare schneiden. »Ich komme da nicht gegen an«, seufzt sie. Wie sehr ich das kenne: Wir leben in einem Ausnahmezustand, in dem die Kinder zu den Erziehern ihrer Eltern geworden sind und diese rein lustbetont steuern können, ohne Grenzen aufgezeigt zu bekommen!1
Klar lege ich der Mutter meinen Standpunkt dar: »Wenn Sie einem Kind die Körperhygiene beibringen wollen, dann sieht es so aus: Fünf Jahre baden Sie das Kind, zwischen fünf und sieben leiten Sie das Kind an, und zwischen sieben und zwölf kommen Sie immer wieder dazu und müssen vielleicht noch sagen: Du hast noch Shampoo im Haar, du musst die Füße waschen, komm, wir schneiden die Fußnägel. Nach einiger Zeit können Sie davon ausgehen, dass dieser Ablauf so trainiert ist, dass er automatisch erfolgt. Wenn das Kind als Partner gesehen wird, passiert folgendes: Der Fünfjährige kommt an und sagt: Mama, ich kann schon duschen. Er wird auch super duschen, weil er es ja der Mama beweisen will. Ab dann schickt sie das Kind, den Partner, nur noch zum Duschen. In Wirklichkeit kann er nicht duschen. Und ich muss Ihnen sagen, ich habe viele Kinder aus besten Familien, wenn ich die körperlich untersuche, stelle ich immer wieder fest, dass sie überhaupt nicht gewaschen und ungepflegt sind. Das passt nicht zusammen, ist aber erklärbar über das Phänomen, dass die Eltern in diesem Kind einen Partner sehen und davon ausgehen, dass es das schon alles kann.«
Was kann ich tun, um Peter zu helfen? Ich versuche es mit Verhaltensspiegelung und sage streng: »Pfui, ruft da ein jeder! Garst'ger Struwwelpeter!« Aber der Junge reagiert gar nicht, sondern schaut nur starr und ausdruckslos. Er ist kein Einzelfall. Kinder wie Peter kommen in nahezu jeder Gruppe, jeder Klasse vor und prägen die Situation heutigen Schulunterrichts leider in prägnanter Weise.
Der Fall Konrad
Konrad betritt meinen Praxisraum, eng an seine Mutter gekuschelt, und sagt nicht »Guten Tag« zu mir. Das kenne ich von fast allen Kindern… Und reichen Kinder doch die Hand zur Begrüßung, wirkt es oft regelrecht formal, anerzogen und in jedem Fall unecht.
Der äußerst verhaltensauffällige Fünfjährige neigt laut Klage der Mutter dazu, stets am Daumen zu nuckeln – ein geradezu idealtypischer Rückfall in die Zeit des omnipotenten Säuglingsalters, in dem die Eltern von Konrad eindeutig versäumten, den Sohn die Erfahrung machen zu lassen, manchmal auch (…) seine Eigenbedürfnisse zurückzustellen. Intuitiv sollte es so sein, dass Eltern diese expliziten Kennzeichen des Säuglingsalters satt haben. Aber Konrads Eltern gehören nicht zu denen, die abgegrenzt sind, in sich ruhen, diese Intuition haben und entsprechende Verhaltensweisen automatisch als falsch empfinden – schade!
Meine Diagnose: Typisch Symbiose! Diese Begrifflichkeit habe ich mir für eine von mir seit dem Jahre 2000 beobachtete Entwicklung ausgedacht: Seit Anfang des Jahrhunderts verschmelzen Eltern psychisch mit ihrem Kind. Es kommt unbewusst zur Bildung einer Symbiose. Eine psychische Reifeentwicklung des Kindes ist nicht mehr möglich.
Nach meiner mehrfach geäußerten Aufforderung ist Konrads Mutter bereit, den Praxisraum zu verlassen, und ruft ihm die mit mir verabredete Abschiedsformel zu: »Ich geh aus – und du bleibst da.«
Kaum ist die Mutter fort, nimmt der verunsicherte Konrad – wupp! – beide Daumen in den Mund. Meinem Gesprächsangebot – »Warum machst du das denn, das ist doch eklig!« – begegnet der unsympathische Knabe mit herablassendem, verstocktem Schweigen, in das er sich immer mehr zurückzieht. Früher hätte mich das augenscheinlich freche Verhalten dieses Kindes wütend gemacht.
Konrad, so viel steht ja wohl fest, ist es nicht gewohnt, dass jemand eine klare Ansage macht. Das ist der seit 1968 verweichlichenden Gesellschaft geschuldet, in der Kindern im »offenen« Kindergarten »Angebote« statt Vorschriften gemacht werden und viel, viel zu selten »Wahrheit oder Pflicht« gespielt wird.
Ich starte einen Versuch, selbst für den Affekt zu sorgen, und schreie den künftigen Aggro-Rapper, Sprayer oder Amokläufer heftig an, aber er glotzt nur feige zurück. Schließlich greife ich zu dem Instrument, das ich während der vielen Talkshows, in denen mich »ernsthafte« Erziehungswissenschaftler fertigzumachen versuchten, auch gern eingesetzt hätte: Mit der Riesenschere aus meinem Praxisschreibtisch-Geheimschubfach entferne ich mit einem schnellen Schnitt die Daumen des nun endlich zu undifferenzierten Lautäußerungen fähigen Konrad. Hei! Da schreit der Konrad sehr! Genau so und nicht anders setzt man klare Grenzen!
Natürlich will mich die Mutter verklagen. Kein Wunder: Schließlich ist auch sie eine der vielen symbiotischen Mütter, die so mit ihren Kindern verschmolzen sind, dass sie deren Schmerzen als ihre eigenen empfinden. Typisch Projektion!
Der Fall Kaspar
Kaspar ist körperlich acht Jahre alt, aber wie alle Kinder von heute psychisch auf ein Alter von vier bis fünf Jahren fixiert. Oder sogar noch weniger: Die Kinder, die ich heute in meiner Praxis sehe, zeigen einen Reifegrad von 10 bis 16 Lebensmonaten – in jeder Altersstufe, auch im Jugendalter.
Partnerschaftlicher Umgang mit dem eigenen Sohn – diesem Erziehungsideal, unter dem wir alle einmal ganz böse zu leiden haben werden, fühlen sich die Eltern Kaspars verpflichtet. Und nicht nur sie: Seit Anfang der 90er Jahre wird das Kind als Partner gesehen und auf die gleiche Ebene mit dem Erwachsenen gestellt. Als Konsequenz kommt es zu einer Fixierung des Kindes in der ödipalen Phase.
Ich besuche die äußerlich gutbürgerlich auftretende, innerlich jedoch völlig verpartnerschaftlichte Familie beim Mittagessen. Es kommt, wie es kommen muss: Kaspar verweigert die angebotene Rosenkohlsuppe. Die Eltern reagieren unsicher: Wie immer nachgeben und dem Kind den Verzehr einer anderen Speise erlauben?
Mahnend meinen Zeigefinger und meine Augenbrauen hebend, sage ich: »Wenn Sie jetzt nachgeben, haben Sie Ihre angegriffene Autorität für immer verspielt. Zwingen Sie Kaspar, die abgelehnte Speise zu essen, indem Sie konsequent bleiben und kein Alternativangebot machen. Kaspar wird es ihnen danken – irgendwann.« Plötzlich glimmt in den Augen der Eltern so etwas wie Hoffnung auf.
An den kommenden Tagen setzen sie den nach meinen Vorschlägen klar strukturierten Essens- und Erziehungsplan vorbildlich um: Keine Extrawurst mehr! Stattdessen gibt es montags, dienstags und an den anderen Wochentagen nur ein Speisenangebot zu allen Mahlzeiten: Rosenkohlsuppe. Wie wird der Achtjährige darauf reagieren?
Im Nachhinein muss ich sagen: Der Junge reagierte seinerseits erstaunlich konsequent, indem er nichts aß. »Bleiben Sie jetzt unbedingt dran«, ermuntere ich die Eltern täglich. Leider teilten sie mir nach einiger Zeit den Hungertod ihres Sohnes mit. Ich tröste sie mit den Worten: »Nehmen Sie Ihr Schicksal an. Ihr Kaspar wäre bestimmt auch einer von den 20 Prozent der Heranwachsenden geworden, die ihr ganzes Leben nicht arbeiten können. Das ist eine tickende Zeitbombe: Wir ackern wie verrückt, und (…) die schmarotzen nur. Sie haben Ihrem Sohn immerhin ermöglicht, in seinen letzten Lebensmomenten zu Ihnen aufschauen zu können, weil Sie Ihre Autorität wieder hergestellt hatten.«
Ist Ihr Interesse geweckt? Das Buch enthält neben diesen Passagen weitere hochinteressante Fallbeispiele. Etwa das Beispiel des siebenjährigen Philipp, dessen Reifedefizit fälschlicherweise als ADS diagnostiziert wurde, oder das des bösen Friederich, dem nur ein beherzter Biss des Hinterwoffschen Hundes Hermann zur Einsicht verhelfen konnte. In der für seine Bücher charakteristischen Schlusskapitel-Apokalypse beschreibt der Autor anhand der Figur des Robert, wie eine ganze Generation quasi weggeweht wird, weil deren Eltern und Pädagogen unfähig waren, bei ungünstigen Wetterbedingungen ein aus Erwachsenensicht adäquates Verhalten durchzusetzen.
Kurz: ein Lesegenuss, der sicherlich erneut Begeisterungsstürme entfachen wird.
Lassen wir zum Schluss den Autor noch einmal zu Wort kommen: Ich ernte nur Zustimmung: von Kollegen, von Lehrern, von Eltern ohnehin; ich gebe ein Fernsehinterview nach dem anderen. Die Menschen scheinen zu begreifen, dass da etwas im Argen liegt und wir dringend handeln müssen.
1 Alle farbig ausgezeichneten Wörter und Sätze sind Originalzitate aus Büchern von und Interviews mit Dr. Michael Winterhoff.