Im Mai 2008 fährt eine Erzieherin nach vielen Jahren erneut nach Reggio. Die neuen Erfahrungen verbinden sich mit Erinnerungen an die erste Reise. Die Faszination und die starken Eindrücke bewirkten damals einen Aufbruch mit dem Ziel, die eigene Praxis zu verändern. Während ihres Besuchs schrieb Hildegard Wies einer Kollegin, was sie erlebte, dachte und der Daheimgebliebenen mitteilen wollte. Eine Art Reisebeschreibung – mit Rückblicken auf die eigene Entwicklung, den Weg mit den Kindern, Eltern und Mitarbeiterinnen der Kita.
Liebe Corrina,
schade, dass Du nicht mit nach Reggio fahren konntest…
Noch immer habe ich das Gefühl der Freude, Begeisterung und Dankbarkeit in mir – wie vor 13 Jahren, als ich das erste Mal in Reggio war. Als ich damals in unsere Kita zurückkam, merkte ich, dass wir bei der Umsetzung dieser beeindruckenden Pädagogik in unsere Praxis buchstäblich noch in den Kinderschuhen steckten. Immerhin kann man in den Schuhen der Kinder manche Überraschung erleben und kommt an neue und unbekannte Plätze.
Spiegel, Podeste und Staffeleien in die Kita zu holen war das Einfachste. Als Nächstes unterzogen wir die vorhandenen Materialien einer kritischen Prüfung. Waren sie geeignet, Kindern die Freude am Forschen zu ermöglichen? Das erforderte zwar auch überzeugende Argumente, vor allem bei den Liebhaberinnen von Puzzles, didaktischem Material und Gesellschaftsspielen, aber es gab keine hitzigen inhaltlichen Debatten. Die befruchtende Wärme der Reibung fehlte noch.
Was mich bei meinem ersten Besuch in Reggio am meisten beeindruckt hatte, war das Kinderparlament. Ich hatte das Glück, dass ein Funke meiner Begeisterung auf Sabine übergesprungen war. Sie begann, mit den Kindern ihrer Gruppe Mitbestimmung zu üben.
Nach einem halben Jahr hatten die Kinder, unterstützt von Sabine, Formen und Rituale entwickelt, die ihren Bedürfnissen und Vorstellungen entsprachen. Was zunächst wöchentlich vorgesehen war, entwickelte sich zum Dauerbrenner. Sogar an den Waldtagen bestanden die Kinder darauf, auf dem weichen Waldboden unter den Bäumen zu tagen. Also musste auch das Sitzungsprotokollbuch mitgenommen werden. Sabine erlebte als Erste, was es in der Reggio-Pädagogik bedeutet, wenn von der Erzieherin als dem Gedächtnis der Kinder gesprochen wird.
Kinder aus anderen Gruppen besuchten Sabines Kinder und trugen den Bazillus der Mitbestimmung in ihre Gruppen. Das Sitzungsprotokollbuch fanden sie besonders wichtig und forderten, dass ihre Vorschläge und Ideen ebenfalls aufgeschrieben werden.
Wir Erwachsene ließen uns von den Kindern inspirieren und anstoßen. Im Team führten wir in dieser Zeit viele Diskussionen darüber, wie, wo, wann und ob Kinder überhaupt in diesem und jenem Bereich mitbestimmen und abstimmen können.
Und ob! Die Kinder waren so schön mutig…
Die Diskussionen im Team waren wichtig für uns, weil wir uns dabei vergewissern und beraten konnten. Was abgestimmt wurde, war auf Grund des Mehrheitsbeschlusses für Kinder und Erzieherinnen bindend.
Ein neues und anderes Klima begann, sich allmählich in der Kita auszubreiten. Ich meine, wir gingen anders miteinander um. Wir begegneten uns mit mehr Achtung und Interesse. Verständnis zu haben, wurde allmählich immer leichter möglich, ohne den eigenen Standpunkt aufzugeben und ohne sich bedroht zu fühlen. Gegenseitige Wertschätzung und die Erkenntnis, dass jede von uns etwas kann und mitbringt, das für die anderen Kolleginnen und unsere Arbeit wichtig ist, führte zu mehr Kollegialität. Aber ob Du es glaubst oder nicht – das war der mühseligste Weg. Denn: So viel an persönlicher Geschichte steht zwischen uns und schwingt unausgesprochen mit…
Wie kommt es, dass wir uns so schnell angegriffen fühlen, dass wir andere so leicht beschämen, dass wir so verletzlich sind und so wenig Vertrauen haben? Nach den Gründen haben wir ernsthaft geforscht und dabei gelernt, unsere Wunden zu sehen und zu pflegen. Das war ein langer Prozess, der übrigens andauert und nie zu Ende geht. Das Wagnis, sich mit den eigenen Sachen auseinander zu setzen, sich selbst und den Kolleginnen zu trauen, bedeutete für jede von uns persönlich und in der beruflichen Arbeit einen großen Entwicklungsschritt.
»Je mehr Wichtigkeit wir dem Kind geben, desto mehr Wichtigkeit bekommt auch der Erwachsene.« Diesen Satz von Loris Malaguzzi kannten wir damals noch nicht, aber wir erlebten, was Malaguzzi meinte.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11/08 lesen.