… erzählen sie über das Leben der Kinder in der Familie und der Kita
Drei Partner aus dem europäischen Netzwerk DECET – ACEPP/ Frankreich, MUTANT/Niederlande und ISTA/Deutschland – arbeiten seit Oktober 2004 mit mehr als 100 Erzieherinnen, Erziehern und Eltern daran, die Spuren der Familien in den Kitas sichtbar zu machen. Serap Sıkcan berichtet von ihren europäischen Erfahrungen und stellt die gemeinsam entwickelten Medien vor.
Oktober 2004. Sechs Frauen aus Frankreich, Deutschland und den Niederlanden sitzen in Paris an einem runden Tisch und überlegen, wie sie den englischen Titel ihrer europäischen Arbeitsgruppe, »Documentation of families«, für ihre jeweiligen Kontexte deuten würden. Dokumentation von Familien – was heißt das? Akten anlegen über Familien? Daten sammeln, wann und wie oft Familien in die Kita kommen? Anwesenheitskontrolle bei Elternabenden? Berichte über Eltern und Kinder schreiben?
Was heißt »Dokumentation von Familien«?
In der Diskussion werden unterschiedliche Vorstellungen und Bedürfnisse deutlich: Die Kolleginnen aus Deutschland möchten den Dialog über Erziehungsvorstellungen zwischen Kita und Eltern partnerschaftlich gestalten, die niederländischen Kolleginnen möchten neue Formen der Einbeziehung von Familien in die Kita kennen lernen, und die Kolleginnen aus Frankreich möchten Familienwände und andere Methoden entwickeln, um Eltern und Kinder in der Kita sichtbar zu machen. Schließlich finden die Frauen einen gemeinsamen Nenner. Sie entscheiden sich für den Arbeitsschwerpunkt »Familien in der Kita sichtbar machen« und finden Titel, die für ihre Kontexte passen: »La documentation des familles« (Frankreich), »Families in beeld« (Niederlande). Für alle Beteiligten ist das Projektvorhaben eine Herausforderung, die allerdings auf unterschiedliche Voraussetzungen trifft:
In Frankreich ist es nicht üblich, Familien in der Kita sichtbar zu machen; man bemüht sich vielmehr, Unterschiede nicht zu zeigen. Dies hat einen historischen Grund: Der französische Staat stützt sich auf seine Grundwerte »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«, die im republikanischen Denken unterschiedslos für alle in Frankreich lebenden Menschen gelten. Diese Art der »Gleichbehandlung« fordert im Gegenzug von den Menschen, sich staatlichen Erfordernissen und Gepflogenheiten anzupassen. In öffentlichen Einrichtungen wie Kitas und Schulen, deren Lehrpläne zentralen Vorgaben folgen, wird das besonders deutlich. Alle Kinder in Frankreich sollen das Gleiche lernen, sollen in den Genuss der vom Staat definierten republikanischen Bildung kommen, die in religiöser Hinsicht neutral ist und in französischer Sprache vermittelt wird. Vor diesem Hintergrund ist es nicht sinnvoll, Unterschiede wie andere Sprachen oder einen bestimmten Glauben hervorzuheben.
In Deutschland und den Niederlanden hingegen werden Familien häufig nicht sichtbar gemacht, weil Erzieherinnen und Erzieher dies nicht als Teil ihrer Aufgabe sehen. Ihre Arbeit richtet sich vorrangig auf das Kind als Individuum. Raumgestaltung und Ausstattung der Kita orientieren sich an Vorstellungen darüber, was Kinder in einem bestimmten Alter oder auf einer bestimmten Entwicklungsstufe brauchen. Die Familie als ihre primäre Bezugsgruppe zählte bisher nicht dazu.
Doch für alle drei Partnerorganisationen gibt es Argumente, die dafür sprechen, in dieser Sache gegen den Mainstream zu arbeiten.
Die Familien sichtbar machen – warum?
Ist die Vielfalt aller Kinder und ihrer Familien in der Kita zu sehen? Wie sehen die Kinder und ihre Familien aus? Wie heißen sie? Welche Sprachen sprechen sie? Wer gehört zu ihnen? Was machen sie am liebsten zu Hause? Womit spielen sie gern? Was essen sie am liebsten?
Je mehr ein Kind erlebt und sieht, dass seine Familie respektiert und geachtet wird, desto eher kann es ein positives Bild von sich und von sich und der Welt entwickeln. Es stärkt seine Wurzeln und kräftigt seine Flügel, wenn ein Kind in der Kita an Vertrautes anknüpfen und von da aus neue Erfahrungen machen kann. Bildungsprozesse gelingen vor allem dann, wenn es sich mit all seinen Identitätsaspekten, zu denen auch seine Familie gehört, wohl fühlt.
Werden Familien sichtbar, machen Kinder Erfahrungen mit Vielfalts. Sie lernen Menschen kennen, die sich im Aussehen, im Verhalten, in der Sprache oder den Gewohnheiten von ihnen unterscheiden. Sie lernen, sich mit Unterschieden wohl zu fühlen und sie zu respektieren.
Haben Kinder sich mit Gemeinsamkeiten und Unterschieden beschäftigt, können sie darüber nachdenken, was unfair ist: »Meine Mutter spricht nicht komisch!«
Schließlich lernen sie, aktiv gegen unfaire Handlungsweisen vorzugehen: »Das darfst du nicht sagen. Meine Mutter spricht Arabisch, eine Sprache, die du nicht verstehst!«
Erzieherinnen und Erziehern bietet dieses Herangehen Gelegenheit, mit Eltern in den Dialog zu gehen, sie ernst zu nehmen und ihnen mit Interesse zu begegnen. Sie bekommen Einblick in die Lebenssituationen der Kinder und erhalten Informationen darüber, welche Erfahrungen die Kinder zu Hause machen. Darauf können sie ihre nächsten Bildungsvorhaben aufbauen.
Eltern hingegen fühlen sich willkommen, als Personen und in ihren Kompetenzen anerkannt, lernen einander besser kennen. So wird die Kita auch für sie ein Stück Zuhause.
www.decet.org
Das europäische Netzwerk DECET fördert in der Praxis frühkindlicher Erziehung, in der Ausbildung, Fortbildung und Beratung die Entwicklung und Umsetzung einer pädagogischen Arbeit, die die Achtung von Unterschieden mit dem Ziel der Gleichberechtigung verbinden.
www.ina-fu.org
Die gemeinnützige Gesellschaft Internationale Akademie für Innovative Pädagogik und Ökonomie gGmbH (INA) an der Freien Universität Berlin initiiert Praxis- und Forschungsprojekte und führt Fort- und Weiterbildungen durch.
www.kinderwelten.net
KINDERWELTEN ist ein Projekt zur vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung in Kitas. Es macht auf Einseitigkeiten in Kitas aufmerksam, zeigt, wie sie Bildungsprozesse von Kindern behindern, und bietet Kitateams und Trägern ein erprobtes Konzept zur vorurteilsbewussten Praxisentwicklung, das auf dem Situationsansatz und dem Anti-Bias-Ansatz (Kalifornien) beruht.
www.bildungsserver.de
Auf den Seiten des Deutschen Bildungsservers finden sich viele interessante Links zu Seiten, die sich mit dem Thema »Familie in der Kita« auseinander setzen. Durchklicken über > Elementarbildung > Bildung und Erziehung in Kindertagesbetreuung > Öffnung und Vernetzung von Kindertageseinrichtungen > Kindertagesstätten als Orte für Kinder und Familien.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 04/07 lesen.