Ein Jahr als Erzieherin in Schweden – Teil 3
Im Januar 2005 zog Michaela Schrade nach Karlskrona in Südschweden. Die Zusage, in der Vorschulklasse einer Montessori-Schule hospitieren zu dürfen, hatte sie bereits. Zusätzlich erhielt sie im Sommer 2005 einen Teilzeitvertrag als Erzieherin in einer Montessori-Kita.
Vor der Abreise steckte Michaela mitten in der Weiterbildung zur Fachwirtin für Organisation und Führung (FOF) an der Mathilde-Weber-Schule in Tübingen. Sie durfte unterbrechen, bekam aber von ihren Kolleginnen den Auftrag, überall genau hinzuschauen und zu berichten. Da sie nicht an alle schreiben konnte, landeten die Briefe in der mailbox ihrer Dozentin Angelika Kercher.
Lesen Sie, was Michaela Schrade in ihrem E-Mail-Reisetagebuch, das in Heft 12/06 begann, festgehalten hat:
27. September
Hejsan, Frau Kercher!
Ich habe die Sache mit dem kunstkapen träd (Baum der Erkenntnis) nicht vergessen. Aber ich muss Sie enttäuschen. Alle Einrichtungen, in denen ich bisher danach gefragt habe, arbeiten nicht mit dem kunstkapen träd oder haben sogar noch nie von ihm gehört.
Ich dachte auch, er sei hier weit verbreitet... In der Vorschulklasse und Kindertagesstätte, in denen ich arbeite, gibt es ihn in abgewandelter Form. Sie haben einen Kreis, der wie Kuchen in verschiedene Stücke oder Bereiche aufgeteilt ist (Motorik, Schwedisch, Natur...).
Jedes Stück ist wieder in kleine Häppchen geteilt, die eine spezielle Aufgabe oder Fähigkeit darstellen, zum Beispiel im Bereich Schwedisch: vollständige Sätze bilden, Erlebtes wiedergeben, Vergangenheit, AdjektivÜbung... Ich werde auf jeden Fall versuchen, eine Einrichtung zu finden, die mit dem Baum der Erkenntnis arbeitet, da ich neugierig bin, wie es gemacht wird.
Haben Sie auch so herrliches Herbstwetter in Deutschland? Wir haben Sonnenschein pur, warme Temperaturen, keinen Wind, und die Blätter an den Bäumen färben sich in den prächtigsten Herbstfarben, so dass wir sehr viel draußen sind und die Natur genießen.
Ich wünsche Ihnen eine schöne Woche.
Michaela Schrade
Liebe Frau Schrade,
vielen Dank. Toll, dass Sie dranbleiben. Erstaunlich, was einem so alles aus anderen Ländern erzählt wird, um hervorzuheben, dass es anderswo 1.000 Mal besser sei als hier. Ich werde nächste Woche in der Anschlussfortbildung, auf der die Rede vom Baum der Erkenntnis war, erzählen, was Sie (nicht) erfahren haben.
Viele liebe Grüße,
Angelika Kercher
25. Oktober
Hejsan, Frau Kercher!
In einer schwedischen Fachzeitschrift kam ein Artikel, den ich sehr interessant und zum Baum der Erkenntnis passend fand. Er handelte exakt davon, wie wichtig es ist, das zu erkennen, was das Kind kann, und es darin zu unterstützen. Ein Satz lautete übersetzt ungefähr so: »Man braucht keine pädagogische Ausbildung, um einen zappelnden Jungen während einer ›Versammlung‹ auf dem Schoß zu halten.
Aber um Situationen zu erkennen, in denen der Junge konzentriert ist, Umgebungen und Situationen zu schaffen, in denen sich der Junge konzentrieren kann, dafür braucht man eine pädagogische Denkweise.« (Es ging um einen Jungen, der von den Erzieherinnen als unkonzentriert und überaktiv beschrieben wurde. Die Beobachterin und Autorin des Artikels stellte
fest, dass der Junge zwar im Kreis unkonzentriert ist, es ansonsten aber Situationen gibt, in denen er äußerst konzentriert ist. Diese Situationen sind dem Personal leider nicht aufgefallen.)
Ich finde es sehr wichtig, sich immer wieder bewusst zu machen: Was braucht dieses eine Kind von mir, damit es sich bestmöglich entwickeln kann? Genau das passiert eigentlich in der Vorschulklasse und der Kindertagesstätte, in denen ich arbeite.
Sicherlich nicht immer hundertprozentig, aber sehr, sehr oft!
Viele liebe Grüße,
Michaela Schrade
Liebe Frau Schrade,
wie geht es Ihnen? Werden Sie schon wehmütig wegen des heranrückenden Abschieds im Februar? Die Zeit vergeht so schnell...
Ein paar Fragen hab ich wieder. Ich hörte im Deutschlandfunk, dass invSchweden jeder Migrant und jede Migrantin, Kinder wie Erwachsene, 800 Stunden (Sprach-)Förderung vom Staat bekommen, zwecks Integration. Stimmt das so? Wie haben Sie interkulturelle Integration erlebt? Sie schrieben mal, dass in der Vorschule immer ein anderes Land behandelt wurde.
Gibt es ein Gesamtkonzept? Hängen Begrüßungen in verschiedenen Sprachen in der Vorschule? Gibt es Spielzeug aus andern Kulturen? Versteht man Integration als Assimilation oder gegenseitige Anpassung? Wie ist das Ansehen von Migranten in Schweden? Machen Sie sich bitte keinen Stress. Entweder Sie haben Zeit zum Antworten oder nicht. Genießen Sie die letzten Wochen!
Angelika Kercher
4. Februar
Hallo Frau Kercher!
Ihre Fragen waren in Vergessenheit geraten. Bitte verzeihen Sie. Unsere Kita betrifft diese Situation zwar gerade nicht, aber ich habe mich inzwischen erkundigt: Mehrmals habe ich das Einwandereramt (migrationsverket) angemailt, ob und wie Migrantenkinder sprachlich gefördert werden.
Überall steht, dass Jugendliche ab 16 Jahren und Erwachsene das Recht auf kostenlose sprachliche und kulturelle Förderung haben. Über Kinder ist nichts zu finden. Da muss ich passen.
Viele herzliche Grüße,
Michaela Schrade