Begriffe versenken war gut. Aber was sagen wir stattdessen? – Gerlinde Lill macht Vorschläge.
Bildung hat mit Geist zu tun – wer wollte das bezweifeln. Geistreich, geistvoll, vergeistigt...
Wieso nicht auch mit Begeisterung?
Natürlich: Bildung und Begeisterung gehören zusammen; wir vergessen es nur zuweilen.
Bildung ohne Begeisterung ist dröge und blutleer, wie ein Buch ohne Leser.
Begeisterung wecken
Wer von uns kennt sie nicht: Menschen, die uns anstecken, mitreißen, unsere Begeisterung wecken. Wenn Sie sich erinnern: Wer fällt Ihnen ein? Hatten Sie das Glück, auf begeisterungsfähige Pädagogen zu treffen? Solche, die ihr Fachgebiet mit so viel Leidenschaft betrieben, dass es lebendig wurde? Die Sie teilhaben ließen an der Faszination, die immer dann entsteht, wenn man sich auf eine Sache einlässt und sich in sie vertieft? Die nicht nur in ihr Fach abtauchten, sondern auch mit Begeisterung auf Sie als Schülerin oder Lehrling reagierten? Sich freuten über Ihre Neugier, Ihre Erklärungsversuche, Ihre eigenen Wege zum Ziel? Die sich erinnern konnten, wie sie selbst gelernt hatten?
Begeisterung wecken – in diesem Sprach-Bild steckt die Erfahrung, dass Begeisterung schon da ist. Sie schläft nur. Wie Dornröschen. Wenn der richtige Prinz vorbeikommt, kann sie wachgeküsst werden. Und das muss auch nicht immer 100 Jahre dauern.
Simon Rattles Projekte
Gerade sah ich eine Dokumentation über Sir Simon Rattles zweites Tanzprojekt mit Kindern und Jugendlichen – »Carmina Burana«. Zum Heulen schön. Und so überzeugend, dass man sich fragt, warum Bildung nicht per Gesetz mit Musik, Tanz und Theater verknüpft wird. Oder mit anderen kreativen Ausdrucksformen.
In Rattles Projekten entstehen Achtung und Dialog, Disziplin und Leistung, Geduld und Zuverlässigkeit aus Begeisterung für die gemeinsame Sache. Es ist zu sehen und zu spüren, wie viel Ernsthaftigkeit im Spielerischen liegt und dass Anstrengung mit Lust verbunden sein kann. Leuchtende Augen in allen Gesichtern. Die Begeisterung trägt Alte und Junge, Profis und Laien. Jugendliche, von denen das wahrscheinlich niemand erwartet hatte, stürzen sich kopfüber in ein Abenteuer, das ihnen neue Welten eröffnet und ihr Leben vielleicht in andere Bahnen lenkt. Ältere Menschen gehen bis an ihre körperlichen Grenzen, leben auf und sind glücklich. Dabei passiert mehr als die Entfaltung von Kompetenzen. Es wird ein Geist der Solidarität und Verständigung gelebt, erlebt, übertragen: Be-Geist-erung.
Die Initiatoren und Begeisterer sprühen ebenfalls vor Freude. Auch sie verausgaben sich total, aber offensichtlich mit Vergnügen. Beneidenswert. So viel Kraft und Motivation frei zu setzen – was gibt es Schöneres! Es bewahrheitet sich der Satz: Nur wer selber brennt, kann andere entzünden. Nur dann springt der Funke über, sprühen die Funken, funkt und funkelt es.
Verborgene Begeisterung
Vielleicht wäre das eine neue Berufsbezeichnung für Pädagogen: Begeisterer. In der weiblichen Form allerdings etwas sperrig: Begeisterinnen. Aber allemal inspirierender als Erzieherinnen, oder?
Doch Begeisterung braucht nicht immer die erwachsenen Begeisterer. Sie blüht auch außerhalb unseres Blickfeldes und jenseits pädagogischer Initiativen – im Verborgenen sozusagen.
Wie Kinder und Jugendliche einander mit ihrer Spielfreude anstecken, das gerät viel zu selten ins Visier von Bildungsspezialisten. Wie sie sich gegenseitig anspornen, in der Entfaltung kreativer Ideen wetteifern, sich inspirieren und aneinander entzünden – das ist noch viel zu wenig Gegenstand erwachsener Aufmerksamkeit und Bewunderung.
Nicht immer sind es die Stärksten und Lautesten, die andere in ihren Bann ziehen. Es würde sich lohnen, genauer hinzuschauen, was sie so ansteckend macht, was in der Interaktion der Kinder passiert, wie sich die Begeisterung fortpflanzt, ausdehnt und alle erfasst. Wie entfalten sich diese fantasievollen Gebilde, die begeisterte Kinder schaffen? Das herauszufinden wäre doch mal eine begeisternde Beobachtungs- und Reflexionsaufgabe, oder?
Nachsätze
Professor Krey aus der Feuerzangenbowle war gestern: »Met der Schoole est es wä met der Mädäzen – se moss bätter schmecken, sonst notzt se nechts.« Heute wissen wir: Bildung muss lustvoll, aktiv, sinnlich und sozial sein – sonst notzt se nechts!
Aufgeschnappter Nach-Satz: Begeisterung ist der Virus, mit dem Überzeugungen übertragen werden. Stimmt wohl. Klappt leider nicht immer. Sonst hätte Hartmut von Hentig es längst geschafft, unsere Bildungslandschaft zu revolutionieren und eine Epidemie der Be-Geist-erung auszulösen.
Mehr über Sir Simon Rattle und die »Carmina Burana«-Aufführung findet sich auf dieser Website.
www.carmina-burana.com
Mit den »Carmina Burana« war es wie kaum jemals zuvor gelungen, Hochkultur und Entertainment zu einem überwältigenden audiovisuellen Gesamtkunstwerk zu verschmelzen. Mehr Infos auf dieser Seite.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 08-09/06 lesen.