Wenn der Begriff Offene Arbeit fällt, verdrehen nicht wenige Kolleginnen die Augen. Sie verbinden mit diesem Konzept Chaos, Desorientierung, Überforderung. Manchmal haben sie Ähnliches erlebt; häufiger entstammen die Schreckensbilder jedoch dem Hörensagen. Geht es um Offene Arbeit, werden folgende Fragen gestellt. Sie sind es wert, eindeutig beantwortet zu werden, findet Gerlinde Lill.
Bedeutet Öffnung von Gruppen nicht, dass die Kinder ihre Orientierung verlieren?
Kinder verlieren ihre Orientierung nicht, wenn die Räume klar strukturiert sind und der Tagesablauf Orientierungspunkte bietet, so dass die Kinder sich in der erweiterten Kita-Welt zurechtfinden können. Werden sie während der Eingewöhnungszeit dabei unterstützt, lernen auch die Jüngsten, sich umzuschauen und sich zu orientieren.
Besteht nicht die Gefahr, dass die Kinder im Haus oder auf der Etage verloren gehen?
Eine Etage ist ein überschaubarer Bereich. Ein Haus ebenso. Und das Kita-Gelände ist gesichert, so dass kein Kind ohne Weiteres verloren gehen kann. Nur Kinder, die noch keine Person ihres Vertrauens gefunden haben oder sich in der Kita unwohl fühlen, kommen auf den Gedanken, wegzulaufen. Wer das wirklich will, findet auch einen Weg. Ist die Kita-Welt spannend genug und geht es den Kindern dort rundum gut, dann fehlt die Motivation zum Weglaufen.
Wie wissen wir, wo sich die Kinder aufhalten?
Dafür gibt es unterschiedliche Systeme. Allen ist gemeinsam, dass die Kinder melden, wo sie hingehen.
Wir halten es übrigens für weniger wichtig, immer zu wissen, welches Kind sich wo aufhält, als vielmehr, dass die Kinder überall erwachsene Ansprechpartner finden. Außerdem plädieren wir dafür, dass es in der Kita auch erwachsenenfreie Zeiten und Zonen geben soll.
Wer behält welche Kinder im Auge? Sind alle Erzieherinnen für alle Kinder zuständig?
Jede Erzieherin ist für die Kinder da, die sich in ihrem Blickfeld aufhalten. »Meine Kinder – deine Kinder« gibt es nicht.
Wenn ein Kind Hilfe, Unterstützung oder das Gespräch mit einer Erzieherin sucht, ist sie zuständig.
Wie funktioniert die Eingewöhnung?
Während der Eingewöhnung steht eine bestimmte Erzieherin für das Kind bereit. Sie bietet ihm während der ersten Zeit einen sicheren Hafen und steht den Eltern als Gesprächspartnerin zur Verfügung. Auf diese Weise entsteht allmählich ein Vertrauensverhältnis.
Um Irritationen zu vermeiden, zum Beispiel wenn diese Erzieherin plötzlich mal ausfällt, sollten je zwei Kolleginnen für die Eingewöhnung von zwei Kindern eingeteilt werden. Aus diesen anfänglichen Zuordnungen entstehen die sogenannten Bezugsgruppen.
Wenn ein Kind auf der Basis wachsender Sicherheit seine Fühler weiter ausstreckt, kann es sich auch eine andere Lieblingserzieherin aussuchen. Die Bezugsgruppen sind veränderbar.
Gehen neue und kleine Kinder nicht unter?
Da sich die meisten Kinder sehr selbstständig im Kindergarten bewegen, haben die Erwachsenen Zeit, sich intensiver um diejenigen zu kümmern, die das noch brauchen.
Wie für alle anderen Altersgruppen müssen auch für Babys und Kleinstkinder Räume geschaffen werden, die ihren Bedürfnissen entsprechen, ohne sie einzuengen und festzulegen.
Zwischen »Nestern« oder »Inseln« für die Jüngsten und dem übrigen Bereich muss Durchlässigkeit bestehen: Besuche und Ausflüge sind ausdrücklich erlaubt.
In jedem Alter haben Kinder das Recht auf eine anregende und herausfordernde Umgebung, auf Freiräume, auf die eigensinnige Erkundung ihrer Welt und auf den Rückzug.
Wie kann ein Gruppengefühl ohne feste Gruppe entstehen?
Es gibt feste Gruppen und Gruppenerlebnisse, zum Beispiel: Projektgruppen, Arbeitsgruppen, Kinderkonferenzen. In manchen Häusern treffen sich die Bezugsgruppen zu bestimmten Zeiten. Und natürlich entstehen Freundesgruppen. Nur die »Verwaltungseinheit« Gruppe gibt es nicht.
Ein Gruppengefühl kann nicht erzwungen werden. Es entsteht durch gemeinsame Aktivitäten, wechselseitiges Interesse, Freundschaften, gemeinsames Tun. All dies findet in Offener Arbeit statt – allerdings frei gewählt.
Bekommen wir die Entwicklungen der einzelnen Kinder noch ausreichend mit?
Ja, wenn wir im intensiven Austausch bleiben und unsere unterschiedlichen Wahrnehmungen der einzelnen Kinder besprechen. Dies verringert auch die Gefahr einseitiger und subjektiver Bewertungen.
Die Bezugserzieherin, die in der Regel ein enges Verhältnis zu den Kindern hat, die sich ihr freiwillig zugeordnet haben, verfolgt deren Entwicklung besonders aufmerksam. Sie sammelt Geschichten und Werke, Ideen und Wünsche der Kinder mit ihnen in Portfolios, Könner-Mappen, Schatztruhen oder Erlebnis-Koffern. Jedes Kind hat seine Sammlung und kann jederzeit darin schmökern.
Beobachtet und dokumentiert wird, worauf sich die Interessen der Kinder richten und was in ihrer Entwicklung gerade »dran« ist. Darüber suchen die Erzieherinnen den Austausch mit den Eltern und vor allem mit den Kindern selbst.
Wie kann die Verantwortlichkeit für Räume und Materialien gesichert werden, wenn es keine festen Gruppenräume und Gruppenerzieherinnen gibt?
Verantwortlichkeit ist eine Frage von Absprache und Verbindlichkeit.
Sinnvoll ist, Verantwortungsbereiche nach Interesse, Kompetenz oder Lust festzulegen. Dies bringt Schwung und Ideenreichtum in die Gestaltung.
Zuständigkeiten sollten nicht für immer und ewig festgeschrieben bleiben. Aber so lange es einer Erzieherin Spaß macht, kann sie sich auf den Bereich ihrer Wahl konzentrieren, sich damit befassen und sich »schlau machen«.
Sind Verantwortlichkeiten nicht vorhanden, scheitern selbst die schönsten Vorhaben. Wie immer steht und fällt das Maß der Bildungschancen für die Kinder mit der Kompetenz der Erwachsenen.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 05/06 lesen.