Kunst ist Grundlage für Entwicklung und Lernen – und für das Lernen selbst. Kunst ist ein Bedürfnis des Menschen. Argumente von Colwyn Trevarthen.
Kinder werden geboren, um im vollen Wortsinn kreative Künstler zu sein – sie machen bedeutsame, schöne Ereignisse möglich, indem sie ihre Phantasie und ihre Gefühle mit anderen Menschen in einer vertrauten und lebendigen Partnerschaft teilen. Diese intuitive Kunst ist mehr als einfach nur ein Spiel. Sie erzählt Geschichten, die die Phantasie bunter machen und die Erinnerung bereichern. Die Kunst dient der Sinngebung in einer traditionellen Gemeinschaft. Die frühesten Manifestationen von Theater und musikalisch-poetischer Erfindung in der Kindheit – mit dem Ausdruck der Stimme, Gesten der Hände, mit dem Gesichtsausdruck und der Haltung des ganzen Körpers – können wir schon im Kontakt zwischen einer liebenden Mutter oder einem liebenden Vater und ihrem Baby sehen, das erst ein paar Tage alt ist.
Entwicklungspsychologen haben die Transformation des erwachsenen Partners in den singenden, dichtenden Co-Schöpfer von rhythmischen »Vor-Dialogen« untersucht, die, wie mein Musikerkollege Stephen Malloch zeigt, »kommunikative Musikalität« haben. Die Wissenschaftler zeigten sich überrascht, wie expressiv, interessiert und synchron die Rufe und Bewegungen des Babys und des Erwachsenen sein können. Im Laufe von wenigen Monaten werden die gemeinsamen Spiele anspruchsvoller, da Körper und Stimme des Babys an Kraft und Verspieltheit gewinnen. Die Kleinkinder und ihre begeisterten Partner geniessen gemeinsame Scherze, necken einander und beteiligen sich beide an Melodien und Versen, die kleine Rituale mit künstlerischer Bedeutung sind. Und noch vor dem Ende des ersten Lebensjahres will jedes Kleinkind, das von anderen Menschen begleitet wird, all die Kleinigkeiten, die Dinge, Bücher, Bilder, aber auch all jene Eigenarten und Zeremonien beim Verhalten, Singen oder Tanzen mit Anderen teilen, die seine Lieblingsspielkameraden mögen.
Das freudige Suchen des Babys nach Sinn und Bedeutung ist der Beginn des natürlichen, intuitiven Prozesses des kulturellen Lernens. Er ist es, der dem Verständnis für das Reden und Denken in Worten vorausgeht und es motiviert. Er findet zu einem Zeitpunkt statt und nimmt gefühlsmäßige Formen an, die jede Kluft zwischen Kulturen und Sprachen überwinden. Jerome Bruner erklärt, dass der formale Unterricht, die spezifische »Kultur der Bildung«, der in industrialisierten und hochorganisierten Ländern der »Ersten Welt« so große Bedeutung beigemessen wird, immer noch von der »Gemeinschaft der Lernenden« abhängt. Diese unterscheidet sich in ihren interpersonellen Anforderungen nicht sehr von den außerschulischen Lerngruppen, in denen die Kinder überall auf der Welt so viel Nützliches und Wertvolles für ihr Leben lernen, indem sie arbeiten, spielen und Kunst erschaffen – gemeinsam mit ihren Gefährten, die Kinder oder Erwachsene sein können.
Der Kernimpuls für den menschlichen Geist, zu lernen, ist – ob in Babys oder in den Klügsten in unserer kulturellen Welt – der gleiche: Man will wissen, wie man an allen Arten von Erfahrungen teilhaben kann, wie man diese Erfahrungen nutzt und dann lernt, mit welchen Worten andere Menschen sie benennen. Die rhythmischen Maße und narrativen Folgen des kreativen Denkens sind in der Naturwissenschaft, in der Mathematik, in Philosophie und Literatur im Grunde die gleichen wie die, die die Eltern und ein sechs Monate altes Kind nutzen, wenn sie gemeinsam ein Lied singen. Diese einfachen Kompositionen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden, offenbaren und nutzen den angeborenen Sinn für Zeit, das Gefühl für die Tonhöhe, den Sinn für Bewegung und Gefühl, ohne die menschliches Denken und Handeln unmöglich sind. Und sie regen das Gedächtnis an, wie alle Arten von Kunst es tun. Sie sind der intuitive Kern unserer Intelligenz und die »Währung« der Kommunikation über alles, was wir wissen. Keine Form der menschlichen Kommunikation ist möglich ohne den Wunsch oder das Bedürfnis nach gemeinsamer künstlerischer Aktion, ohne den Ausdruck von Energie und Gefühl in Bewegungen und ohne narrative Muster der Phantasie, unterstützt durch die Erinnerung an schöne Werke. Dieses Bedürfnis verknüpft Wissenschaft und Kunst und macht sie unentbehrlich füreinander. Es ist Teil des natürlichen Erbes der Kinder und die intuitive Kraft, mit der sie in einer Welt voller klug redender Menschen, die Dinge erfinden und über Jahrhunderte hüten und bewahren, Verständnis für diese Welt entwickeln.
Die Wahrheit dieser Erkenntnis wird am Beispiel eines autistischen Kindes auf tragische Weise deutlich. Ein autistisches Kind beherrscht die normalen Rhythmen der Wahrnehmung, der Neugier und der motorischen Leistungen nicht und kann sie nicht mit anderen teilen. Ein anderes Beispiel ist der Fall eines Kindes, dessen Geist durch Misshandlung und Vernachlässigung geschädigt wurde.
Diese Kinder, deren Wille und künstlerisches Talent beschädigt sind, haben »besondere Bedürfnisse«. Sie brauchen eine Form der Kommunikation mit anderen Menschen, die verständnisvoller als gewöhnlich und ihnen besonders zugewendet ist, die auf ihre geschwächte Kreativität eingeht und sie unterstützt, die die Motive ihres eigentümlichen Verhaltens aufdeckt oder die zwanghafte Erfindungsgabe der besonders intelligenten unter ihnen teilen kann. Man kann diesen Kindern am besten mit einer Kunsttherapie helfen, die geeignete Formen des Theaterspiels, der Musik, des Tanzes oder des graphischen Geschichtenerfindens nutzt. Auf diese Weise kann man ihnen die elementare Freude gemeinsam genutzter Phantasie eröffnen.
Der neue Ansatz (»new look«) in der Hirnforschung ist es, Belege dafür zu finden, dass der kognitive Prozess der gewaltigen kortikalen Lernsubstanz für seine Bildung und bewusste Absorption von Erfahrungen stets von Motiven und Gefühlen abhängig ist, die in den ältesten Teilen des Gehirns entwickelt und reguliert werden. Dieselben emotionalen Systeme und Systeme von Motiven entwickeln sich früh im pränatalen Stadium, noch vor dem Kortex, und sie behalten ihren entscheidenden Einfluss auf Handlungen und Wahrnehmung während des ganzen Lebens. Am intensivsten ist dieser Einfluss jedoch in der Zeit der frühen Kindheit, wenn der Mensch am schnellsten, schöpferischsten und kontaktfreudigsten lernt. In wenigen Worten kann man sagen, dass unser Gehirn schon mit einem künstlerischen Anteil und mit der Wertschätzung der Ziele und Gefühle hinter den gewollten und bewusst gesteuerten Aktionen anderer Menschen geboren wird.
Ich habe vier kreative Erzieher gebeten, ihre Erfahrungen mit der Bedeutung der Kunst für das Leben und Lernen von Kindern und ihre Meinung zum Thema zusammenzufassen. In ihren Antworten fielen vor allem zwei Dinge auf: Zum einen sind Kinder von Natur aus Künstler und Erfinder, Dichter und Musiker. Zum anderen entwickeln sie Verständnis und neue Ideen am besten dann, wenn sie in der Gemeinschaft mit verständnisvollen Gefährten handeln und lernen. Alle vier Erzieher sind leidenschaftlich von der Rolle der Kunst überzeugt, sowohl Freude als auch Bedeutung in das Leben eines Kindes zu bringen, und alle vier bestätigen, dass die gemeinsame künstlerische Kreation die Persönlichkeit des Kindes stärkt und zugleich den Weg zum Erwerben aller Art von Wissen und Fähigkeiten öffnet – einschließlich des Wissens aus dem eher rationalen, formalen Lernprozess.
Die vier Erzieher wiederholen die Worte des Philosophen Alfred North Whitehead, Mitautor des Werkes »Principia Mathematica«, der die lustvolle Kreativität als für das Lernen notwendig bezeichnet.
»Das Paradox, das so viele vielversprechende Bildungstheorien ruiniert, besteht darin, dass ein Training, das eine Fähigkeit hervorruft, zugleich so sehr geeignet ist, die Lust und das Vergnügen an der Phantasie zu ersticken. Fähigkeiten erfordern Wiederholungen, das Vergnügen an der Phantasie jedoch ist voller Impulsivität. Bis zu einem bestimmten Punkt eröffnet jede neu erworbene Fähigkeit auch neue Wege für die Phantasie. Doch der Nutzen jeder individuellen formalen Ausbildung hat seine Grenzen. Jenseits dieser Grenzen kommt es zum Verfall, zum Rückschritt: ›Die Lilien auf dem Feld arbeiten nicht und hetzen sich nicht ab.‹«
Die Motivation der Lernenden ist es, beim Entdecken und Verstehen in Gemeinschaft zu sein – mit Gleichaltrigen und Lehrern. Das kreative Entdecken – Kunst – durch gemeinsame Schöpfung von Erfahrungen und »Spaß« ist die Grundlage für das ernsthafteste praktische Wissen und kompetente Arbeit. Die ernsthafteste Wissenschaft und die fortschrittlichste Technologie werden sich nicht weiterentwickeln und gedeihen ohne künstlerische Kreativität des Denkens und der Fähigkeiten, die als eigener Wert geschätzt werden. Dennoch wird Bildung heutzutage von der Einschätzung und Bewertung vorgeschriebener Leistungsziele und des zu erreichenden Könnens in einer begrenzten Auswahl von Fähigkeiten beherrscht. Diese Ziele und Fähigkeiten richten sich immer danach, was die jeweiligen Regierungen und Behörden als erforderlich für Technologie und Handel ansehen. Doch ein Curriculum, das die Künste ausschließt oder vernachlässigt, ist wie eine Herzkrankheit des Lernens, die das Leben von Vernunft und Verständnis verkürzen wird.
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