Von Krieg und Frieden und der Unwirksamkeit abgerungener Entschuldigungen
Die Grenzen zwischen okay und nicht okay scheinen häufig unscharf, doch im Grunde wissen wir genau, wann Gewalt, Missbrauch oder Vernachlässigung vorliegt. Selbst wenn wir es objektiv nicht immer greifen können: Es fühlt sich nicht gut an, wenn wir oder andere respektlos behandelt werden und schlimmer noch, wenn wir darüber in Resignation versinken oder am Ende bemerken, dass wir selbst weitergeben, wie wir nie hätten behandelt werden wollen. Wie wünschen wir uns die Welt, und was können wir – jeden Tag – dazu beitragen? Unsere Autor:innen Steve Heitzer, Astrid Boll, Regina Remsperger-Kehm und Florian Esser-Greassidou teilen ihre Gedanken zu diesem kleinen, großen Thema.
Sorry not sorry!
Kinder zur Entschuldigung zu drängen, ist aus der Zeit gefallen und dennoch tägliche Praxis. Dabei besitzen abgerungene Entschuldigungen, zu denen der Erwachsene das Kind drängt, keine Halbwertzeit. Sie sind unwirksam und helfen Kindern in keiner Weise, einen Konflikt beizulegen und sich einander wieder anzunähern. Zwangsentschuldigungen sind grenzüberschreitend und anmaßend. Wie bei einem Tennismatch hockt der Erwachsene auf seinem Hochstuhl der moralischen Unfehlbarkeit, spricht vermeintlich Recht, erhebt Klage und verordnet Entschuldigungen. Man stelle sich Erwachsene im Straßenverkehr vor, die an einer Kreuzung über die Vorfahrt streiten. Plötzlich kommt ein Dritter hinzu und erlegt dem vermeintlichen Verkehrssünder auf, er solle sich gefälligst entschuldigen! Vorher dürfe er nicht weiterfahren. Wer käme sich da nicht gegängelt, bevormundet und überrumpelt vor und würde der Aufforderung zur Entschuldigung nicht oder nur halbherzig Folge leisten wollen?
Entschuldige mal bitte!
Warum behandeln wir Kinder wider besseren Wissens auf diese Art und Weise? Denken wir, sie seien nicht in der Lage, Differenzen selbst zu lösen und für adäquate Wiedergutmachung zu sorgen? Mit Zwangsentschuldigungen sprechen wir Kindern Mündigkeit, Souveränität und Selbstbestimmung ab und opfern die Gleichwürdigkeit, auf die Jesper Juul in seinen Büchern hinweist. Entspricht es wirklich unserem Herzenswunsch, Kinder zur einstudierten, flüchtig dahin genuschelten »Entschuldigung« anzuhalten? Zumal sie oft den kognitiven Transfer, sich bewusst schuldhaft zu fühlen, noch gar nicht leisten können. Statt auf eine Entschuldigung zu bestehen, sollten wir den emotionalen Bedürfnissen des Kindes nachgehen und es dabei unterstützen, sein Gefühlsvokabular zu erweitern. Eine aufgesagte Entschuldigung ist eine flüchtige Plattitüde, während aufrichtige Gesten des Bedauerns Beziehungen sogar stärken können. Nur mal so gefragt: Wann haben Sie sich zuletzt – aufrichtig – bei einem Kind entschuldigt?
Florian Esser-Greassidou ist Fachberater und Autor aus Aachen.
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Kinder hören und verstehen
In einem Brief an die Eltern einer Schulklasse heißt es: »Das Benehmen der Kinder ist Lehrer:innen gegenüber respektlos, Mobiliar wird nicht pfleglich behandelt.« Nicht okay, würde man sagen. Beim Elternabend werden die Eltern anschließend aufgefordert, ihre Kinder dazu zu bewegen, neben den »bekannten Störer:innen« weitere Kinder zu nennen, damit sie für ihr Fehlverhalten bestraft werden können. Eine Entschuldigung der Klasse sei zwingend. Auf die Nachfrage, ob denn die Lehrkräfte mit den Kindern gesprochen und nach Ursachen und Lösungen gesucht hätten, gab es nur ein ernüchterndes »Nein« als Antwort. Vielmehr offenbarte sich, dass die Schüler:innen von einzelnen Lehrkräften vor der Klasse ausgelacht, vorgeführt und beschimpft wurden. Auch nicht okay.
Diese Episode zeigt, wie schwierig es ist, sich im grauen Bereich zwischen okay und nicht okay zu bewegen. Welches Verhalten als richtig, falsch oder noch tolerierbar eingeordnet wird, ist schwer einzuschätzen. Der Bericht verdeutlicht aber auch, dass sich ein (zu) schnelles Urteil über Personen und Situationen schnell wandeln kann, wenn wir uns die Mühe machen, alle Perspektiven zu hören und zu verstehen. Betrachtet man das Recht von Kindern auf ein gewaltfreies Aufwachsen, sind wir als Erwachsene verpflichtet, Kinder zu hören und uns darin zu üben, Kinder in ihrem Tun zu verstehen. Dieser Gedanke war für uns leitend, als wir das Buch »Verantwortlich handeln« geschrieben haben. »Bitte gebt uns etwas, damit wir zukünftig besser handeln können«, lautete der indirekte Auftrag der Fachkräfte, die wir in unserer Studie zu verletzendem Verhalten in Kitas befragt haben. Um verletzendes Verhalten gemeinsam zu verhindern und Kinder bereits im jüngsten Alter zu schützen, braucht es neben den Fachkräften auch die Träger, die Fachberatung und den Einsatz weiterer Akteur:innen im Umfeld der Kitas, die sich dem Wohl von Kindern verpflichtet fühlen.
Verantwortung übernehmen
Für das Leben in einer Welt, in der wir einander hören, respektvoll miteinander umgehen und für einander da sind, können wir gemeinsam auf drei Punkte achten:
1. Niemand kann und darf sich aus der Verantwortung ziehen. Kinderschutz, ob in der Kita, zu Hause oder in der Gesellschaft, braucht alle Akteur:innen. Folgen wir dem italienischen Sprichwort, dass »zwischen dem Reden und dem Tun das Meer liegt«, ist mehr notwendig als Lippenbekenntnisse. Wenn wir spüren, dass sich etwas falsch anfühlt, müssen wir die Stimme erheben, miteinander sprechen und handeln.
2. In diesem Sinne bedeutet Verantwortung, mutig zu sein und nicht zu resignieren. Gleichgültigkeit ist der Tod
jeder Demokratie und auch das Ende von Kinderschutz. Sich zu äußern, wenn Kindern Unrecht geschieht, einzugreifen, wenn Eskalation droht, Meldung zu tätigen, um Kinder zu schützen, ist vor allem für das betroffene Kind bedeutsam. In unserem Handeln erkennt es, dass es wichtig ist und nicht alleine gelassen wird.
3. Die Umsetzung von Kinderschutz ist mehr als ein Dokument. So wie Frieden nicht die Abwesenheit von Krieg bedeutet, ist das Vorhandensein eines Kinderschutzkonzepts nicht die Gewähr eines pädagogisch qualitativ wertvollen Handelns. Kinderschutz von Anfang an beginnt bei einem feinfühligen Umgang mit dem einzelnen Kind!
Wenn uns Fachkräfte berichten, dass sie von alten Erziehungsvorstellungen Abstand genommen haben, weil sie die Perspektiven von Kindern besser erkennen können, beeindruckt uns dies sehr. 45 Jahre nach Astrid Lindgrens Appell »Niemals Gewalt« gegen Kinder auszuüben, zeugt dies von einer deutlichen Kehrtwende im Verständnis: Der Einsatz ist groß, jede Form der Verletzung Kindern gegenüber zu vermeiden. Lasst uns gemeinsam weiter handeln und sensibel hinsehen, damit Kinder ihre Rechte erfahren und in ihrem Aufwachsen gestärkt werden.
Dr. Regina Remsperger-Kehm ist Professorin für Frühkindliche Bildung an der Hochschule Fulda.
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Dr. Astrid Boll vertritt eine Professur für Kindheitspädagogik an der Hochschule Rhein-Waal.
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 03-04/2024 lesen.