Selbstbestimmt lernen auf dem Kinderbauernhof
Auf dem kleinen Bauernhof der Umweltpädagogin Undine Günther bei Halle (Saale) können Förderschüler:innen Beziehungen zu und mit Tieren erleben. Aus einem anfänglichen Umweltprojekt ist inklusive Beziehungsarbeit gewachsen, die sowohl die Menschen miteinander als auch die Menschen mit den Tieren wieder auf Augenhöhe bringt.
Nur eine S-Bahnstation vom Hauptbahnhof Halle entfernt liegt der beschauliche Stadtteil Kanena. Neben einer baufälligen Ruine befindet sich eine große umzäunte Fläche, die auf den ersten Blick wie eine wilde Brache wirkt. Als ich eintrete, tut sich vor mir eine weite Wiese mit Bäumen auf. Gleich am Eingang stehen Regentonnen unter einem großen Zelt, weiter hinten erkenne ich schon die kleinen Acker und einige Tiergehege. Ich stolpere über meine eigene Verwunderung, denn hier stehen keine Ponys, Schweine und Kühe glücklich vor der Scheune und kauen auf langen Grashalmen. So aber hatte ich mir das kindgerechte Landidyll vorgestellt.
Dinoschnitzel vom Dino?
Wie stark die Entfremdung von der Natur ist, hatte Undine vor vielen Jahren bei sich selbst gespürt. Als Erzieherin in einem Kindergarten wusste sie auf viele Fragen keine Antwort. »Das ist doch verrückt, dass ich den Kindern nicht sagen konnte, woher ihr Essen kommt. Diese Kinderfragen haben mich wirklich ins Grübeln gebracht!«, erinnert sie sich noch heute mit Staunen. Denn dass die Milch von der Kuh kommt, glaubten ihr die Kinder damals nicht. Auch konnten sie nicht nachvollziehen, dass das Dinoschnitzel aus Schwein hergestellt wird. Die junge Erzieherin war mächtig irritiert darüber, dass die Kinder kaum wussten, wie ihr Fleisch auf den Teller kommt. »Da musste ich etwas tun, das wollte ich auch für mich lernen. Mich hat die Frage sehr beschäftigt, wie der Mensch mit der Natur in Einklang leben kann. Es ist doch fragwürdig, dass wir unsere Lebensgrundlage immer weiter zerstören.« Die damalige Erzieherin machte sich auf den Weg und holte ihr Abitur nach, anschließend studierte sie Agrarökologie in Rostock. Während des Studiums belas sie sich zu diversen ethischen und ökonomischen Konzepten, doch keines davon überzeugte sie wirklich. Etwas sehr Wichtiges fehlte ihr immer: die Beziehung zwischen Mensch und Tier auf Augenhöhe. »Wir müssen vor allem unser Bewusstsein weiterentwickeln, damit wir wieder wahrnehmen, dass wir Teil der Natur sind. Wenn wir diese Verbundenheit spüren, dann gehen bestimmte Sachen nicht mehr. Ich kann deswegen kein Fleisch und keine Milchprodukte mehr zu mir nehmen. Ich erlege mir damit keine Regeln auf, und es schränkt mich auch nicht ein, sondern es ist mein Bewusstsein, das mich leitet.«
Brücken schlagen
Heute Nachmittag ist Familienzeit auf dem Kinderbauernhof. Der Hund Ronja gehört auch dazu und begrüßt alle freudig. Die Eltern nehmen im Schatten Platz um sich bei einer Tasse Kaffee miteinander auszutauschen. Die Kinder gehen mit der Pädagogin als erstes zum Kaninchengehege. Auf dem Weg dorthin sammeln sie Löwenzahn, Spitzwegerich und Schafgabe. Direkt merken sie sich, was die kleinen Tiere besonders mögen, und sind schon ganz vorfreudig, ihnen gleich das leckere Mahl zu übergeben. Wir gehen vorsichtig in das Gehege hinein und halten die saftigen Blätter hin. Ganz ruhig und geduldig hocken die Kinder da, bis die Kaninchen auf sie zuhoppeln und genüsslich von den mitgebrachten Leckereien knabbern. Ein Kind möchte ein Kaninchen hochnehmen, aber davon rät die Pädagogin ab, weil die Tiere das nicht mögen. Undine absolvierte eine Zusatzausbildung für tiergestützte Pädagogik. So steht der Tierschutz auf dem Kinderbauernhof an erster Stelle. Kein Tier wird bedrängt, jedes darf den Kontakt freiwillig aufnehmen oder eben nicht. Auch über die Hündin Ronja lernen wir, dass sie nur gestreichelt werden oder spielen möchte, wenn sie zu uns kommt. Liegt sie ruhig an der Seite, dann braucht sie gerade eine Pause. Was so selbstverständlich klingt, ist für einige neu. Denn viele Kinder, die mit Haustieren leben, sind es gewohnt, das Tier zu streicheln oder mit ihm zu spielen, wenn sie es gerade möchten.
Undine lädt uns ein nachzuschauen, ob es genug Wasser in den Näpfen gibt, und zu beobachten, wie es den Kaninchen heute geht. Bei dem heißen Wetter liegen die Tiere lieber im Schatten. »Geht es euch auch so, wenn die Sonne scheint?«, fragt die Pädagogin in die Runde. Ja, wenn es so heiß ist, gehen sie auch lieber in den Schatten, erzählen die Kinder. Als nächstes warten schon die hungrigen Hühner auf uns. Jedes Kind bekommt eine Kelle mit Futter. »Die Kelle dient hier als Brücke, um die Nähe und Distanz zwischen Hühnern und Kindern gut zu regulieren«, erklärt Undine mir. »Denn wenn die Kinder das Futter nur hinwerfen, ist es zu viel Distanz, wenn wir das Futter von den Händen picken lassen, ist das eher unangenehm.«
Manche Vögel sind sehr mutig. Sie kommen direkt auf unser Angebot zugerannt. Eines ist sogar so gierig, dass es die anderen Hühner verscheucht, damit es alles für sich alleine haben kann. Ein Schüchternes traut sich kaum aus seiner Ecke heraus. Insbesondere dieses Huhn wollen die Kinder deshalb füttern und finden es ungerecht, dass es sonst nichts abbekommt. Ein Kind gibt sich besonders viel Mühe, das schüchterne Huhn zu erreichen, und geht ganz behutsam hin, damit es an die Körnchen kommt. Die Kinder erleben hier, dass es unterschiedliche Charaktere gibt und sie deswegen unterschiedliche Zuwendung brauchen. Die Brücke zum Sozialverhalten von Menschen schlagen die Kinder von ganz alleine. Undine erzählt mir außerdem: »Umso häufiger die Kinder kommen, desto bewusster sind ihnen die charakterlichen Unterschiede. Oft sprechen sich die Kinder sogar vorher ab, wer heute das schüchterne Huhn füttert. Manchmal schimpfen sie auch mit dem dominanten Huhn, das immer alles für sich haben will.«
Neben den kleineren Tieren gibt es auch noch die drei Schafe auf einer Weide 100 Meter vom Gelände entfernt. Auch sie brauchen unsere Zuwendung. Die grauen Wollknäuel können wir im hohen Gras kaum entdecken. Sie leiden heute besonders unter der Hitze. Die dicke Wolle muss unbedingt abgeschoren werden, erklärt mir die Pädagogin. Nur sei es schwierig, einen Termin bei einem Scherer zu bekommen, da es nur noch wenige gibt, die das professionell betreiben. Die Kinder kraulen die Schafe am Hals, während sie im Schatten stehen. Nachdem alle Tiere gut versorgt sind, ernten wir noch Erdbeeren, um für uns einen frischen veganen Erdbeerjoghurt zuzubereiten. Die Eltern sind noch immer im Gespräch mit der Sozialarbeiterin Johanna. Sie können alle Fragen stellen und über Probleme sprechen, die ihnen im Alltag begegnen. Jede Woche kommen die Familien für 1,5 Stunden, um sich auszutauschen, während die Kinder mit Undine den Bauernhof erkunden. »Der Bedarf ist groß«, berichtet sie. »Es gibt eine lange Warteliste, und ich würde es gerne noch mehr Familien anbieten, doch das geben unsere Kapazitäten leider nicht her.«
Undine Günther eröffnete den Kinderbauernhof Kanena im Mai 2018 mit Hilfe des Trägervereins GartenWerkStadt Halle e.V. Durch diverse Fördermittel, Spenden und viel ehrenamtliche Arbeit konnte sich das Projekt etablieren. Im Oktober 2023 zieht der Kinderbauernhof auf das Stiftsgut der Franckeschen Stiftungen nach Stichelsdorf.
Kontakt
www.kinderbauernhof-kanena.de
Diesen Beitrag können Sie vollständig neben weiteren interessanten Beiträgen in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 07-08/2023 lesen.