Wo jede Stimme zählt
Wie Kinder mit Verantwortung umgehen, hängt vor allem von ihrem Bezugsrahmen ab. Diese Einsicht erlaubt die Dissertation über sogenannte Kinderrepubliken des Erziehungswissenschaftlers und ehemaligen Dozenten für Schulpädagogik Martin Kamp. Er schrieb sie Mitte der 1990er-Jahre. Mit unserer Redakteurin Jutta Gruber reflektiert er die Impulse seiner Arbeit für eine zeitgemäße Pädagogik.
Sie forschten über sogenannte Kinderrepubliken und publizierten eine bemerkenswerte Arbeit zur Geschichte, Praxis und Theorie radikaler Selbstregierung in Kinder- und Jugendheimen. Bereits als Jugendlicher faszinierte Sie dieser Bereich der Reformpädagogik. Wie kam es dazu?
Zunächst ist das gar nicht so ungewöhnlich, wie sich das heute vielleicht anhört. Ende der 1960er-Jahre war die sogenannte »antiautoritäre Erziehung« in den Medien und auch in der Schule ein vieldiskutiertes Thema. Insbesondere das Taschenbuch »Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill« des schottischen Pädagogen A. S. Neill war umstritten. Seine Betonung von Freiheit und radikaler Selbstbestimmung faszinierte mich. Weil das Buch 3,80 DM kostete – ein Preis, den ich mir als damals 14-jähriger Schüler nicht leisten konnte –, las ich das komplette Buch stehend vor dem Bücherregal eines Kaufhauses. Jeden Tag ein paar Seiten beim Umsteigen zwischen zwei Straßenbahnen.
Das blieb nicht ohne Folgen.
Ja, das kann man so sagen. Ohne dieses Buch hätte ich wahrscheinlich nie Pädagogik studiert. Als ich etwa in der Mitte meines Pädagogik-Studiums gerüchteweise hörte, es habe Heime gegeben, die von den Kindern und Jugendlichen selbst regiert wurden, war dies der Beginn meiner Forschungen zum Thema »selbstregierte Kinderrepubliken«. Der Antrieb dazu war sicher biografisch. Als Sohn einer zweifellos sehr kinderlieben Mutter, die Kindergärtnerin bei der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt gewesen war, und eines autoritären Vaters, der als Gefängniswärter arbeitete, hatte ich ein besonderes Bedürfnis, mich zu positionieren, indem ich mich aufmachte, herauszufinden, ob es so etwas wie freie Heimerziehung geben kann. Nachdem ich bereits einige unterschiedliche Konzepte von Kinderrepubliken zu unterscheiden gelernt hatte, von denen die britische psychoanalytische Heimerziehung in der Tradition von Homer Lane die einzig wirklich selbstregierte war, kam mir auch Summerhill als bekanntestes Beispiel radikaler Selbstregierung wieder in den Sinn.
»Radikale Selbstregierung« klingt ziemlich radikal. Was genau kann man sich darunter vorstellen?
»Radikal« meint eigentlich nichts anderes als »konsequent«, vom lateinischen »radix«, an die Wurzel gehen – als Gegensatz zur nicht-radikalen, unechten Selbstregierung. Und so paradox es klingt: Damit eine radikale Kinder- und Jugendselbstregierung funktioniert, braucht man zunächst einmal Erwachsene, die das Heim gründen, organisieren und finanzieren. Selbstregierung ist das Konzept dieser Erwachsenen, lange bevor das erste Kind ankommt. Die Kinder haben nicht die Wahl, ob ihr Heim selbstregiert sein soll oder nicht, genauso wie sie nicht die Wahl haben, ob ihr Vater autoritär oder religiös sein soll oder nicht. Auch wenn einige das Gegenteil behaupten: Es kann keine souveränen, unabhängigen Kinderstaaten geben. Heime sind immer Erziehungseinrichtungen innerhalb von Erwachsenenstaaten und deren Gesetzen und Regelungen unterworfen. Entscheidend ist die feste Absicht und Überzeugung der Erwachsenen, die Kinder auf keinen Fall zu manipulieren. Insbesondere in der Heimerziehung ist Manipulation und Strafe keine gute Option.
Warum nicht?
Die psychoanalytische Erziehung geht von einer intensiven, liebenden Grundbeziehung zwischen Eltern und Kindern aus. Solange diese sichergestellt ist, besteht »Erziehung« weitgehend in der freiwilligen Selbstanpassung des Kindes an die Wünsche der geliebten Eltern. Die wichtigste Maßnahme bei allen Problemen ist die Wiederherstellung dieser liebenden Grundbeziehung. Die Bindung zwischen Kind und Eltern ist meist so fest, dass sie sogar ein gewisses Maß an strafender Erziehung überstehen kann. Die Bindung von Kindern an Heimerzieher:innen, die vielleicht sogar häufiger wechseln, ist sehr viel zerbrechlicher. Allein schon deshalb dürfen sich Heimerzieher:innen keine strafende Erziehung leisten: Sie könnte die unersetzliche Grundlage aller Erziehung zerstören.
Wie geschieht das Lernen in Einrichtungen mit radikaler Selbstregierung?
Wie in anderen Bereichen der Reformpädagogik geht es auch bei der Selbstregierung wesentlich um das Lernen aus eigener Erfahrung. Der antiautoritären Erziehung wurde oft vorgeworfen, dass die Kinder dort »alles dürfen«. Das ist ein Missverständnis. Aber sie dürfen und sollen sehr vieles erproben. Nahezu jedes Verhalten soll erprobt und ermutigt werden, auch und gerade unsinniges und falsches Verhalten – sofern es nicht allzu gefährlich ist –, im Vertrauen darauf, dass bei hinreichender Vielfalt von Erfahrungen die Überlegenheit des richtigen Verhaltens erkannt werden wird. Zur Sicherung eines Mindestmaßes an Ordnung im Heim kann auf milde Strafen – kein Nachtisch oder dem Geschädigten die Schuhe putzen – kaum verzichtet werden. In selbstregierten Einrichtungen werden diese Strafen jedoch von der Gemeinschaft verhängt und nicht von den Erziehenden. Strafen sollen an die Verbotenheit des Tuns erinnern, aber ausdrücklich nicht vom verbotenen Tun abhalten. Fehlverhalten soll ermöglicht werden, aber keineswegs erlaubt – es bleibt verboten und strafbar. Fehlverhalten und das Lernen daraus sollen besser früher als später auftreten. In selbstregierten Einrichtungen lernen die Kinder aus Einsicht und nicht aus akuter oder verinnerlichter Strafangst.
Kontakt
Dr. Martin Kamp ist telefonisch (0176/54089511) oder postalisch (Berliner Str. 203, 45144 Essen) erreichbar.
Diesen Beitrag können Sie vollständig neben weiteren interessanten Beiträgen in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 03-04/2023 lesen.