Ein Plädoyer für senso-motorisches Rechnen
Rechnen und Mathematik waren für die einstige Studienrätin Elisabeth C. Gründler – wie für viele – lange Zeit verbunden mit einem diffusen Gefühl von Unverstandenem und auswendig Gelerntem, von Leere und sinnlos vertaner Zeit, Angstschweiß und Beschämung. Heute ist sie mit ihrer Ansicht, dass Mathe als Schulfach abgeschafft gehört, nicht allein.
»Mama«, fragte mich meine Tochter als sie elf war, »wozu braucht man überhaupt Mathematik?« »Ich weiß es nicht«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Ich bin in meinem ganzen Leben mit vier Grundrechenarten, ein bisschen Prozentrechnung und ab und zu mal einem Dreisatz ausgekommen. Das reicht, um zu wissen, ob das Wechselgeld stimmt oder um rauszukriegen, wie viele Rollen Tapeten man kaufen muss.« Die ganze Wahrheit war jedoch, dass Zahlen mir lange Zeit Angst machten. Besonders in Schreiben von Finanzämtern und Steuerberatern. Meist standen die Zahlen für Geld, das ich bezahlen musste, aber nicht hatte.
Soweit, so Durchschnitt. Ich weiß mich in bester Gesellschaft. Alle Jahre wieder bescheinigt uns eine Pisa-Studie, dass Deutsche in Mathe mittelmäßig sind und viele Oberstufenschüler:innen nicht rechnen können. Mathe ist das Fach mit den meisten Fünfen und der häufigste Grund fürs Sitzenbleiben.
Rechnen mit Händen und Füßen
Wie konnte es soweit kommen? Riskieren wir einen Blick zurück, nur etwa 500 Jahre. Der große Reformator Martin Luther und seine Mitschüler brauchten weder in der Schule noch auf der Uni Mathe zu lernen. Ihr Karrierefach war Latein. Wie viele Gänse ein leibeigner Bauer seinem Lehnsherrn abliefern musste, konnte dieser an seinen Fingern abzählen. Dafür musste man keine Zehnerpotenzen oder binomischen Formeln kennen, auch nicht das kleine Einmaleins. Bauer und Gutsherr waren, was ihre Rechenkenntnisse betraf, gleichauf mit Kaiser und König. Zahlen, damals noch die römischen, benutzte man, um Daten festzuhalten. Die von Geburt und Tod auf Grabsteinen oder die von großen Schlachten in Geschichtsbüchern. Aber eher nicht zum Rechnen. Versuchen Sie doch mal CXXXII und MCCXXIX zusammenzuzählen? Klappt nicht? Wenn wir umschalten auf unser heutiges Zehnersystem und mit den arabischen Zahlen rechnen, geht es ganz leicht: 132 + 1.229 = 1.361.
Natürlich rechneten auch schon die alten Römer – wie hätten sie sonst das Colosseum bauen oder ihre Truppen versorgen können? Aber sie rechneten nicht abstrakt mit Zahlensymbolen, sondern konkret mit ihren Händen, durch Anfassen und Tun. Sie nutzten dazu ein Gerät, den Abakus. Darauf wurden in Rillen kleine Steine hin und hergeschoben und auf diese Weise Summen oder Produkte errechnet. Auch die Füße und der ganze Körper galten den Beherrschern des römischen Weltreiches als Maßstab: Entfernungen wurden in Tagesmärschen gerechnet, eine Wegstrecke, die die Truppe – zu Fuß natürlich – an einem Tag zurücklegen konnte. Im alten Ägypten, wo nach der Nilflut die Felder alljährlich neu vermessen werden mussten, war die Elle, d.h. die Länge des Unterarms, das allgemeine Längenmaß.
Der Körper als Ausgangspunkt und Maßstab
»Senso-motorisch«, und »operational« nannte der Schweizer Entwicklungspsychologe Jean Piaget diesen Weg der Erkenntnis: Mit ihren Sinnen (»senso«) und Bewegung (»motorisch«) sowie spontanem oder regelbasiertem Handeln (»operational« von lat: »operare« = arbeiten) erkunden Kinder ihre Umgebung. Oftmals mit großer Geduld – sofern man ihnen die Zeit lässt – versuchen sie herauszufinden, welche Funktion und Bedeutung ein Gegenstand oder ein Symbol hat. Schon bei den Jüngsten beobachten wir, wie sie mit dem Arm abmessen, ob sie am Ende auch ihr Bein über den Rand der Krabbelkiste bekommen oder ob sie eine andere Technik zum Aussteigen entwickeln müssen.
Kinder bis etwa zum zwölften Lebensjahr, das hat Piaget erforscht, gehen immer spontan den Weg der senso-motorisch-operationalen Erkenntnis, weil es der Entwicklung ihrer Hirnreife entspricht. Erst ab etwa dem 13. Lebensjahr ist das menschliche Denken zu ab-strakt-logischen Operationen ohne Anbindung an eine senso-motorische Handlung fähig. Natürlich kann man jedes Kind durch Druck und Gewalt dazu zwingen, Zahlenreihen, z.B. das kleine und das große Einmaleins, auswendig zu lernen. Erziehung zum Nachplappern und Rohrstockpädagogik lassen grüßen. Doch mit Logik und Mathematik hat das nichts zu tun. In den alten Hochkulturen dienten Zahlensymbole dazu, den Prozess des Rechnens, d.h. seine Zwischenschritte und das Endergebnis, zu dokumentieren. Der Vorgang des Rechnens selbst jedoch war eine Kombination aus senso-motorischer Aktivität und geistig-logischer Operation. Auch für die Kathedralenbauer des Mittelalters war Rechnen noch verbunden mit Senso-Motorik. Sie nutzten ein Rechenbrett. Linien und Zwischenräume symbolisierten Zahlenwerte, die mit römischen Zahlen V = 5, X = 10, L = 50, C = 100 notiert waren. Auf dem Brett wurden Münzen hin und her geschoben. Wer weder Brett noch Münzen zur Hand hatte, zeichnete Linien in den Sand oder auf den Wirtshaustisch und schob darauf kleine Steine hin und her. Ein ebenso funktionierendes wie schlichtes und überall verfügbares Verfahren, für alle, die es brauchten: Baumeister und Kaufleute, Handwerker und Bergwerksbetreiber.
Elisabeth C. Gründler ist Pädagogin und hat mehrere Jahrzehnte lang Kinder und Jugendliche aller Altersstufen sowie Erwachsene in ihren Lernprozessen begleitet. Sie arbeitet außerdem als Journalistin und ist Autorin mehrerer Bücher – ohne das freie Spiel wäre sie soweit nicht gekommen. Rechenbretter, Taptana und der Pesta-Abakus gehören zu ihrem Lieblingsspielzeug.
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 07-08/2022 lesen.