Bericht aus einer israelischen Gemeinschaftskita
Der Alltag in westlichen Familien heute findet zumeist in drei Bereichen statt: im Familienleben, im Beruf und in Bildungsinstitutionen. Aber obwohl die Beziehung der Eltern zur Kita in allen Bildungsplänen als wesentlich beschrieben wird, ist der Kontakt üblicherweise nur innerhalb definierter Rahmenbedingungen und Zeitsegmenten möglich. Deshalb leben junge Kinder in mehr oder weniger getrennten Welten: der Familie und der Kita. Um ein größeres Gemeinschaftsgefühl zwischen Familien, Kindern und Fachkräften zu erreichen, hat sich die Kita der Hebrew Universität in Jerusalem außergewöhnlich nach außen geöffnet. Der Kita-Leiter Perah Midbar Alter verschafft Einblick in das einzigartige Konzept seiner Gemeinschaftskita.
Die Gan-Gemeinschaft
Das Gemeinschaftsleben im Gan1 findet auf zwei Ebenen statt: der allgemeinen und der individuellen. In den meisten Kitas besteht die allgemeine Ebene aus verschiedenen Aktivitäten, Elterntreffen und gemeinsamen Ausflügen. Manche Kitas laden z.B. die ganze Familie des Kindes zu seiner Geburtstagsfeier in der Kita oder zum Shabbat-Gebet ein. Die individuelle Ebene meint, dass sich ErzieherInnen mit den Eltern zu persönlichen Gesprächen treffen. Darüber hinaus stehen die ErzieherInnen für kurze persönliche Gespräche am Ende des Kitatages zur Verfügung. Eine Kita, die beide Ebenen verbindet, wird in Israel als Gemeinschaftskita bezeichnet (englisch: community preschool oder community kindergarten).
Wie wir in unserer Kita an der Hebrew Universität in Jerusalem Gemeinschaft definieren, ist uns überlassen. Es gibt dafür keine Vorschriften. Wir hören da auf die Stimmen der Familien und Kinder. Sie nämlich bringen die unterschiedlichen kulturellen, sprachlichen, politischen, geschlechtlichen und individuellen Merkmale mit, aus denen sich unsere »multikulturelle Kindergartengemeinschaft« zusammensetzt.
Uns ist es besonders wichtig, dass sich unsere 22 Kinder und ihre Familien mit diesen Unterschiedlichkeiten in der Kita wohlfühlen, jedoch ganz ohne Wertungen. Um das zu gewährleisten, beginnt der Prozess der Gemeinschaftsbildung schon vor dem Kindergartenjahr. Zunächst besuche ich alle Kinder zu Hause. Ich sehe mir ihre Zimmer und Spielsachen an, treffe ihre Brüder und Schwestern, lerne ihre Gewohnheiten und Vorlieben kennen. Gleichzeitig unterhalte ich mich mit den Eltern und bleibe auch manchmal zum Abendessen. So werde ich Teil der Familie. Darüber hinaus gibt es die Elterntreffen, wo wir über das Kita-Konzept, Regeln und Vorstellungen sprechen. Dabei lernen die Eltern sich untereinander und auch das Kindergarten-Team besser kennen, sie haben außerdem die Gelegenheit, sich über die Kinder auszutauschen.
Wir arbeiten im Team mit zehn Personen, wobei fast alle in die pädagogische Konzeptionierung und Betreuung eingebunden sind. Auch ich als Leiter bin einerseits für das pädagogische Konzept zuständig, aber führe eben auch Ausflüge und Exkursionen durch, und bin den ganzen Tag mit den Kindern zusammen. Wir versuchen den Betreuungsschlüssel bei 1:6 zu halten, wobei wir auch von diversen PraktikantInnen und Studentinnen der Universität unterstützt werden. Fachlich beraten werden wir von drei WissenschaftlerInnen, die auf kindliche Entwicklung spezialisiert sind.
Alltag im Gan
Am ersten Tag des neuen Kindergartenjahres laden wir alle Eltern in unsere Einrichtung ein. Wir erklären ihnen, dass es bei uns für die Eingewöhnung keine festen Regeln gibt, z.B. wie lange ein Kind in der Einrichtung bleiben und wann die Eltern anwesend sein sollten. Hier gehen wir ganz auf die Bedürfnisse jedes einzelnen Kindes ein. Früher oder später bleiben die Kinder gerne allein, ohne die Eltern, in der Einrichtung. Kinder werden bei uns nicht wie ein Paket am Eingang abgegeben. Wer auch immer das Kind bringt, ist eingeladen eine Weile zu bleiben und auch die SpielkameradInnen des Kindes kennenzulernen. Wir öffnen morgens um 7.00 Uhr, und Familienangehörigen können bis 9.45 Uhr bleiben. In der Regel unterhalten sich dann die anwesenden Eltern miteinander oder sie spielen zusammen mit den Kindern. Einen Vater liebten die Kinder ganz besonders. Wenn er in den Kindergarten kam, hat er die Tür aufgestoßen und gerufen: »Wen fange ich heute?« Die Kinder sind dann in alle Richtungen gerannt und haben sich versteckt. Wenn der Vater einmal nicht kam, waren die Kinder total enttäuscht.
Der Kitatag beginnt bei uns mit einem Frühstück bis 9.30 Uhr, danach sitzen wir alle zusammen und die Kinder erzählen von Erlebnissen, und wir sprechen über das Thema, das die Kinder für diesen Tag gewählt haben. Danach können die Kinder frei spielen. Nach dem Mittagessen wird geschlafen oder draußen gespielt. Am Nachmittag unternehmen wir oft Ausflüge in den Wald, den Botanischen Garten oder zu Orten innerhalb der Universität. Unsere Einrichtung hat bis 16.00 Uhr geöffnet. Wir bitten die Eltern, ihre Kinder nicht bis zur letzten Minute in der Kita zu lassen. Nicht, weil wir pünktlich nach Hause wollen, sondern damit die Eltern Zeit und Gelegenheit haben, sich über den Kita-Tag ihres Kindes zu informieren. Oft gibt es nicht viel zu erzählen, die Eltern freuen sich jedoch, ein paar Worte über ihr Kind zu hören, und wir kommen den Eltern wieder einen Schritt näher. Wir versuchen, am Ende des Tages mit allen Eltern ins Gespräch zu kommen, so sehen und spüren die Kinder, dass wir hier eine Gemeinschaft sind.
Perah Midbar Alter ist Kindheitspädagoge und Leiter der Kita der Hebrew Universität in Jerusalem.
1 Gan ist das hebräische Wort für Kindergarten
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 05-06/2020 lesen.