Zur besonderen Bedeutung des Außenspielgeländes
»Doch das Paradies ist verriegelt. Wir müssen die Reise um die Welt machen und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.«
Heinrich von Kleist
Kinder brauchen Orte, an denen sie selbstbestimmt und ungestört eigene Erfahrungen sammeln und bearbeiten können. Wo gelingt dies besser als im Freien?
Doch was braucht es, damit sich das Außenspielgelände der Kita zu einem verheißungsvollen Schauplatz gelingender Kindheit entwickeln kann? Es braucht einen Ort, an dem sich bereits die Jüngsten authentisch und ausdrucksstark mit elementaren Dingen beschäftigen können, die in keinem Katalog zu finden sind.
Wir wollen uns auf die Reise begeben und nach Antworten suchen.
Schenken wir den Erzählungen vieler Erwachsener Glauben, dann existiert in uns allen ein tiefes Wissen, wie naturnahe Spielorte beschaffen sein müssen, um Kindern komplexe Selbsterfahrung und Selbstverwirklichung zu gewähren. Da werden Spielsituationen aus der eigenen Kindheit benannt, in der es noch Brachfächen, frei zugängliche Bachläufe oder heimliche Verstecke im Dickicht gab. Häufig waren es die verbotenen Zonen, die Fantasien beflügelten und besondere Spielanreize boten. Wild musste es sein und fernab der ständigen Kontrolle der ordnenden Erwachsenenwelt.
Wir sollten dieses Wissen nutzen, um uns als Lobbyisten von Kindern für die Gestaltung von Freiflächen einzusetzen, in denen Wildwuchs und Selbstbestimmung möglich sind. Und zwar aus zwei guten Gründen:
Erstens: Kinder wollen spielen
Heute erleben wir, dass die natürlichen Spielräume im direkten Wohnumfeld von Kindern durch expandierende Bebauung und Siedlungsverdichtung immer rarer und unzugänglicher werden. Untersuchungen zur aktuellen Lebenssituation belegen auch in ländlichen Gebieten eine drastische Einschränkung der außerhäuslichen Spielorte und Begegnungsmöglichkeiten. Zwar ist unsere moderne Gesellschaft scheinbar mobiler geworden, Kinder hingegen werden durch das Schließen der letzten Baulücken und die ansteigende Verkehrsdichte zunehmend behindert. Mit der Vertreibung ungebändigter Natur aus dem Siedlungsraum geht die weitgehende Ausgrenzung kindlicher Spielerfahrung einher. Natur kommt in vielen Wohnquartieren fast nur noch als pflegeaufwändige Kulisse vor. Vorgärten, Höfe und öffentliche Grünflächen wurden so zurechtgestutzt und gezähmt, dass sie der Beanspruchung durch wilde Kinderspiele nicht mehr standhalten oder schlichtweg langweilig sind. Nicht nur bestimmte Pflanzen und Tierarten sind vom Aussterben bedroht – auch viele traditionelle Spieltätigkeiten und explorierende Materialerfahrungen geraten vielerorts in Vergessenheit.
Die Kita muss hierauf reagieren und naturbelassene Erfahrungsräume anbieten, in denen schon Kleinstkinder genügend Anregungen vorfinden, um sich und ihre Körper in sinnstiftende Beziehung zu ihrer natürlichen Umwelt zu bringen. Ähnlich einem Biotop wären diese Spielotope sinnliche Katalysatoren für eine besondere Kultur des Lernens. Denn Kinder benötigen zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit vor allem wahrnehmungsförderliche Orte mit differenzierten Rückzugs- und Betätigungsmöglichkeiten, an denen sie sich mit Spielpartnern immer wieder aufs Neue erfinden und erproben können.
Eingeschränkte Spielerfahrung führt immer auch zum Verlust komplexer Lebenserfahrung. Daher brauchen wir in unseren pädagogischen Einrichtungen großzügige Außenspielflächen, die sich nicht an ihren Quadratmeterzahlen, sondern an ihren Möglichkeiten zur persönlichen Aneignung messen lassen.
Zweitens: Kinder wollen lernen
Wir wissen heute, dass der Entzug unmittelbarer sinnlicher Reize gerade bei Kleinstkindern zur signifikanten Verarmung der Wahrnehmungsfähigkeit und zu Einschränkungen in der körperlichen und geistigen Entwicklung führt. Wir wissen auch, dass Kinder sich vor allem im freien Spiel ihre Umwelt aneignen. Diese verspielte Form des Weltbegreifens erhebt das Kind zum Akteur seiner Entwicklung und öffnet den Blick für eine eigenwillige Lernkultur, die auf Neugierde und forschendes Handeln ausgerichtet ist. Hier entwickelt sich die Basis für alle späteren Lernformen.
Lange bevor begrifflich-abstrakte oder abgesicherte Wissensbestände wirksam werden, erfährt das Kind mit ungezügeltem Erfahrungshunger und Betätigungsdrang alles über sich und die Welt, in die es hineinwächst. Das eigenständige Entdecken und Erforschen ist somit nicht nur seine schöpferische Form der Weltaneignung, es fördert gleichzeitig die Motivation, lernen zu wollen! Wo könnte dies in einer pädagogischen Einrichtung störungsfreier geschehen als im naturnah gestalteten Außengelände, ausgestattet mit einer Vielzahl an mobilen und vielfältig interpretierbaren Alltagsmaterialien?
Es braucht wenig Spielzeug, aber viel Zeug zum Spielen, um in eigener Regie lernen zu wollen. Kinder spielen und experimentieren, ohne es begrifflich benennen zu müssen, mit den physikalischen Gesetzen der Schwerkraft und Mechanik, der Beschleunigung und des freien Falls. Sie erleben Wind- und Wasserkraft, machen Bekanntschaft mit der Oberflächenspannung des Wassers oder beobachten, wie sich der Himmel in einer Pfütze spiegelt. Aufsteigendes und fließendes Wasser kann in improvisierte Rohrsysteme geleitet werden und vermittelt auf der vorbegrifflichen Stufe handlungsbezogenes Expertenwissen, das Jahre später im Physikunterricht der Schule wissenschaftlich benannt wird.
Der Wissensdurst ist in diesem Alter noch unersättlich, und im sinnlichen Zugang liegt der Schlüssel zur Welt. Was eine Baumrinde ist, erfährt das Kind, indem es den Baum berührt oder sich an einem starken Ast entlang hangelt. Beim Anbohren und Abblättern der Rinde eines abgestorbenen Stamms entdeckt es unbekümmert die Existenz von Lebewesen, für die es noch keinen Namen hat. Mit einer belehrenden Erklärung kann es wenig anfangen – rein begriffliche Abstraktionen benutzt es erst viel später. Im ursprünglichen Sinne des Wortes begreift und erfasst es seine Umwelt und merkt sich das Gefühl, den Geruch, das Aussehen, den Geschmack oder das, was sich in der Folge seines Tuns ereignet. Es ordnet ähnliche oder übereinstimmende Wahrnehmungen, bildet Kausalzusammenhänge und verleiht ihnen Bedeutung, um sich so unzählige innere Bilder von der Welt zu erschaffen. Das gibt Sicherheit und ist Anlass für weitere Erkundungen.
Udo Lange ist Dipl. Sozialpädagoge, Gründer und pädagogischer Leiter der Pädagogischen Ideenwerkstatt BAGAGE e.V. in Freiburg, Spielraumplaner, Fotograf und Autor
Thomas Stadelmann ist freischaffender Künstler, Dipl. Sozialpädagoge, Gründer und künstlerischer Leiter der Pädagogischen Ideenwerkstatt BAGAGE e.V. in Freiburg, Spielraumplaner, Baukünstler und Autor.
Mehr Info unter: www.bagage.de
Der Beitrag ist eine Leseprobe aus dem soeben erschienenen Buch:
Raum braucht das Kind
Anregende Lebenswelten für Krippe und Kindergarten
Herausgegeben von Gabriele Haug-Schnabel und Ilse Wehrmann
220 Seiten, mit vielen farbigen Fotos, kartoniert
verlag das netz Weimar, Berlin 2012
ISBN 978-3-86892-061-1
Euro 27,90
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 03/12 lesen.