Was Sie schon immer über Offene Arbeit wissen wollten – Teil 9
In Heft 8-9/10 startete eine Serie mit Fragen und Antworten zur Offenen Arbeit – eingesammelt in Kindertageseinrichtungen, bei diversen Veranstaltungen und beantwortet von Gerlinde Lill. Diesmal geht es um Teamentwicklung als Leitungsaufgabe.
Wie kann man ein Team dazu bringen, sich auf Offene Arbeit einzulassen?
Eine typische Frage. Typisch für ein Führungsverständnis, das auf andere einwirken will, das Kolleginnen (wie die Kinder) zu etwas bringen will, das sie offenbar nicht von sich aus tun.
Was aber sollen sie tun? Die Ausgangsfrage lässt vermuten, dass es darum geht, im Team die Bereitschaft zu wecken, sich mit dem Thema »Offene Arbeit« zu befassen. Diese Bereitschaft scheint nicht vorhanden zu sein. Denn ginge es um Planung und Erprobung, um Zieldefinitionen und erste Schritte, hätte das Team sich ja bereits eingelassen, und es käme jetzt auf Kompetenzerweiterung an.
Die entscheidende Frage ist also: Woran liegt es, dass die Mitarbeiterinnen bislang nicht bereit waren – nicht einmal gedanklich –, sich mit Offener Arbeit zu befassen? Haben sie schlechte Erfahrungen damit gemacht? Wurden sie (zu) oft mit Neuem konfrontiert, auf das sie sich einlassen mussten? Haben sie resigniert? Fühlen sie sich überfordert und allein gelassen? Reagieren sie mit Abwehr auf alles, was »von oben« kommt? Oder was sonst blockiert sie? Je nach dem, worin die Ursachen liegen, sind spezielle Reaktionen erforderlich, wenn eine Chance bestehen soll, Bereitschaft zum Nachdenken über Offene Arbeit zu wecken.
Im Übrigen: Allein das spürbare Interesse, die Beweggründe der Kolleginnen herausfinden und verstehen zu wollen, ändert eine Menge. Die Leitung selbst »lässt sich ein«. Ernst genommen statt »bearbeitet« zu werden, das ist eine Basis dafür, sich ebenfalls einzulassen.
Schlechte Erfahrungen kann man nicht wegreden. Doch es hilft, genauer hinzuschauen, worin sie bestehen. Haben die Kolleginnen Offene Arbeit in Form allzeit offener Türen erlebt? Oder als Verplanung von Kindern und Kolleginnen? Oder...
In solchen Fällen sind Einblicke in eine alternative Praxis der Offenen Arbeit ratsam. Zwar wären neue eigene Erfahrungen am besten, doch die werden ja gerade durch die früheren verhindert. Als Ersatz oder erstes »kleines Einlassen« können Hospitationen dienen. Die eigene Anschauung, angereichert durch Gespräche und Erfahrungsberichte, verändert häufig die Sicht auf Offene Arbeit, und der Widerstand schwindet. Natürlich nur dann, wenn Häuser besucht werden, in denen tatsächlich erlebbar wird, dass Offene Arbeit mehr ist als veränderte Raum- und Organisationsstrukturen, in denen sich wandelnde Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern sichtbar und spürbar werden.
Im Anschluss an solche Einblicke ist die Bereitschaft, sich aufs offene Denken einzulassen, meist erheblich größer als vorher. Die Auswertung des Gesehenen und Erlebten im Spiegel eigener Vorstellungen und bisheriger Erfahrungen kann neue Perspektiven hervorbringen, wenn man hinter die Oberfläche der Erscheinungsformen schaut und den Kern der Sache freilegt. Informationen über die historischen Wurzeln der Offenen Arbeit, über Anliegen und Prinzipien, über ihre sichtbaren und unsichtbaren Seiten tragen zur (Auf-)Klärung bei.
Der Nebel lichtet sich und es wird erkennbar, wohin der offene Weg führen kann.
Eine Leiterin, die Offene Arbeit befördern will, macht sich schlau und trägt zur Klärung bei. Sie kümmert sich um Hospitationen in Häusern, die inhaltlich anregend und, wenn möglich, von den Rahmenbedingungen her (Größe, Standort…) vergleichbar sind. Unterstützung von außen durch Expertinnen der Offenen Arbeit, zum Beispiel in einer Teamfortbildung, kann hilfreich sein. Zuweilen fällt bei solchen Gelegenheiten der Startschuss zum tätigen »Sich-Einlassen«.
Falls die fehlende Bereitschaft, sich auf Offene Arbeit einzulassen, Ausdruck von Überdruss ist – »Schon wieder etwas Neues! Was denn noch alles?« – und nichts mit der Sache selbst zu tun hat, nützt es wenig, Kenntnisse zu ermöglichen. Eventuell verstärkt sich dieses Gefühl sogar noch, und der innere Widerstand wächst.
In all diesen Fällen kommt es darauf an, den Druck zu verringern und die Erfahrung zu ermöglichen, dass eigene Gedanken gefragt sind und ernst genommen werden. Das erfordert, Gelegenheiten zur Reflexion bisheriger (Berufs-)Biografien zu schaffen, und zwar nicht mit der Intention, die Kolleginnen »umzupolen«. Wenn sie die Möglichkeit haben, ihre eigenen Entwicklungswege nachzuvollziehen, klären sich vielleicht Orientierungen, ergeben sich Gemeinsamkeiten, können gemeinsame Ziele benannt werden. Ob dieser Weg letztlich in Richtung Offene Arbeit führt, das sei dahingestellt. Das Nachdenken über Erfahrungen und Zukunftsperspektiven ist ein ergebnisoffener Prozess. Doch dabei wird ein Prinzip Offener Arbeit erlebbar. Was kann überzeugender sein?
Ob sich ein Team gedanklich in Offene Arbeit vertieft und ob daraus gemeinsames Handeln entsteht, hängt davon ab, was die treibenden Motive sind. Welche Ziele werden verfolgt? Oder anders gesagt: Was soll sich ändern? Das gilt es herauszufinden. Denn das ist der Schlüssel für Interesse, Engagement und Initiative – genau wie bei den Kindern.
Soll die Kita zu einem Haus werden, in dem Kinder-Interessen konsequent im Mittelpunkt stehen? Wollen Erzieherinnen nicht länger Einzelkämpferinnen sein? Wollen sie ihre Fähigkeiten und Leidenschaften ausbauen? Was treibt sie an?
Klar ist: Nur wer sich einen Gewinn davon verspricht, lässt sich auf Offene Arbeit ein.
Kann man Haltungsänderungen bewirken?
Diese Frage – oder besser: die dahinter liegende Absicht – bewirkt wohl eher das Gegenteil von Öffnung. Allein das Ansinnen, ihre Haltung ändern zu sollen, lässt Kolleginnen »dicht« machen. Wundert das jemanden?
Verwunderlich ist vielmehr: Im Brustton der Überzeugung wird verkündet, dass zuerst Haltungsänderungen stattfinden müssen. Gerade unter denjenigen, die Offene Arbeit für mehr als ein pädagogisches Raumkonzept halten, ist diese Forderung verbreitet: Entweder habt ihr die »richtige« Haltung, oder ihr müsst sie einüben, ehe es losgehen kann. Wie soll das funktionieren?
Haltungen bilden sich im Laufe des Lebens heraus. Selbstbild, Weltsicht, Wertesysteme – kurz: Einstellungen und Überzeugungen – von außen ändern zu wollen, das halte ich nicht nur für aussichtslos, sondern auch für anmaßend.
Wir alle haben unseren inneren Kompass, an dem wir uns ausrichten. Bei manchen Kolleginnen (und Eltern) weist dieser Kompass seit langem in Richtung »offener Prinzipien«. Vorausgesetzt oder verlangt werden kann das jedoch nicht. Wahrscheinlicher ist, dass manche Leitgedanken Offener Arbeit quer zu den gewachsenen Erziehungsvorstellungen und pädagogischen Überzeugungen stehen – ganz zu schweigen von den Gewohnheiten der Praxis. Und Einstellungen können sich erst im Prozess der Öffnung wandeln.
Die Erfahrung geteilter Verantwortung erleichtert eine neue Sicht auf Kinder. Sie unterstützt die Bereitschaft, konsequent aus der Perspektive von Kindern auf das Leben in der Kita zu schauen. Die Freude an dem, was sich im eigenen Denken bewegt, setzt Ideen frei und ermutigt zu neuen Vorhaben. All das schafft Klarheit und Gelassenheit.
So führen neue Erfahrungen zu neuen Erkenntnissen und zum Wandel im pädagogischen Rollenverständnis. Der alte Kompass wird neu justiert. Dieser Prozess der Teamentwicklung ist – wenn es gut läuft – eine never ending story.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 10/11 lesen.