Als ich noch ein kleines Mädchen war, liebte ich Märchenbücher, die fein illustriert waren. Die Bilder erfreuten und inspirierten mich ebenso wie der Inhalt, und die Kombination beider half meiner Fantasie auf die Sprünge. Ein Märchenbuch aus dieser Zeit besitze ich noch und hüte es wie einen Schatz. Das Märchen vom goldenen Himmelschlüsselchen, den tränenden Herzen und der Wundergeige blieb mir bis heute in Erinnerung. Es handelt von dem Mädchen Herzlieb, das in die Welt hinaus zieht, um sein Glück zu suchen.
War es müde vom Wandern, legte es sich auf einer Waldwiese in das weiche Gras. Als es dunkel wurde, begegnet ihm die Königin der Nacht, und Herzlieb durfte sich etwas wünschen. Am Morgen wuchsen zu Füßen des Mädchens Himmelschlüsselchen und Tränende Herzen, die bewiesen, dass die Königin der Nacht wirklich da gewesen war.
Zum Schluss heißt es: »Der Frühling zog im Blumenkleid ins Land, da wurde aus Herzlieb und Frohmut ein glückliches Paar, und Tränende Herzen machen die Menschen wieder froh.«
Vielleicht liebe ich diese kleine Blumen und Blüten aus dem Märchen, die kaum jemand kennt und an denen viele Leute achtlos vorübergehen, deshalb noch heute.
Himmelschlüssel, Löwenzahn und Hirtentäschel
Im Garten meiner Tante pflückte ich Himmelschlüsselchen, denn es gab sie im Überfluss. Ich stellte mir vor, dass sie mir den Eingang zum Himmel öffnen, wenn ich es mir nur fest genug wünsche. Wie oft habe ich Himmelschlüssel gemalt, sie genau betrachtet und ihre gelben Blütenstände studiert...
Auch Vergissmeinnicht, Löwenzahn und Glockenblumen liebte ich, die überall am Waldrand wuchsen. Ich beseelte die Pflanzen, sah kleine Elfen darin wohnen, sprach mit ihnen, fühlte mich wie Däumelinchen und erlebte die Welt in Miniatur. Das lag sicher an den wunderbaren Namen der Blumen, die mich faszinierten und meine Einbildungskraft stärkten: Schachbrettblume, Echte Ochsenzunge, Echtes Herzgespann, Löwenschwanz und Frauenmantel oder Fingerhut. Wie mag wohl das Hirtentäschel aussehen?
Wir wussten viel, als wir Kinder waren. Wir probierten Nektar aus den Blüten, fürchteten uns vor dem giftigen Fingerhut, schlitzten die Stängel des Löwenzahns, um den Saft zu gewinnen, der gegen Warzen helfen sollte. Wir kannten das Innere der Löwenmäulchen, denn wenn man die Blüte geschickt drückt, klappt das Mäulchen auf und zu. Beim Spielen verglichen wir die Farbmuster der Stiefmütterchen und wussten, welche Blumen duften, sich verändern, wir kannten ihre Standorte und wussten, ob sie Schatten oder Sonne mögen. Ihre Samen sammelten wir in Kästchen oder Tütchen und säten sie an anderen Stellen wieder aus. Wir legten kleine Beete an, pflanzten Veilchen, die wir am Waldrand gefunden hatten, und freuten uns, wenn sie den Ortswechsel überlebten. Wir banden Kränze und legten Mandalas aus Blumen, ohne das sonderbare Wort zu kennen. Nicht nur fünfblättrige Kleeblätter, sondern viele verschiedene Blüten und Blättchen pressten wir und sammelten sie in kleinen Heften, um sie später in Poesiealben oder auf Briefe zu kleben.
Niemand verbot uns, Blumen zu pflücken. Wir wussten genau, welche wir nehmen durften. Die unscheinbaren Blüten mit den märchenhaften Namen gefielen uns sowieso viel besser als die wertvollen Gartenblumen.
Jungfern im Grünen, Goldruten und Kuhschellen
Meine Tante liebte alle Blumen. Ihr Garten war im Sommer ein Meer aus Düften und Farben, von Orangegelb bis Purpurrot, von Zartrosa bis Himmelblau wie die Jungfern im Grünen. Diese blassblauen Blumen mit ihrem bizarren Grün hatten es mir besonders angetan. Nie vergaß ich, sie an heißen Sommertagen zu gießen.
Ringelblumen mochte ich auch, nicht allein wegen ihrer leuchtenden Sonnenfarbe, sondern weil die kleinen Samen sich auf der Hand kringelten und es immer ein bisschen kribbelte, wenn wir sie aus den Blütenständen fischten, als seien es kleine Würmer.
Eine wichtige Rolle spielten die Goldruten in meiner Kindheit. Auf Ruinengrundstücken wuchsen sie besonders üppig und überragten uns Kinder. Zwischen ihnen ließ es sich gut Verstecken spielen, und sie wurden zu Inseln unserer Abenteuerreisen auf verbotenem Gelände.
Wenn wir Glück hatten, entdeckten wir auch Kuhschellen, ganz besondere Frühlingsboten. Ihr gefiedertes Laub erschien erst nach der Blüte, die mit ihren großen, seidigen Blütenblättern und ihren rundlichen, federartigen Samenständen unser Interesse weckte. Vorsichtig berührten wir die silbrige Behaarung und hatten kindliche Ehrfurcht vor der Vielfalt der Natur.
Die Sprache der Blumen
Als Kinder dachten wir, Blumen und Pflanzen haben Seelen und eine Sprache. Das glaubten übrigens auch die alten Ägypter. Sie wussten, dass der Duft der Blumen eine Wirkung auf Menschen hat und besondere Kräfte übertragen kann.
Im Laufe der Jahrhunderte entwickelten sich eine Blumenkultur, eine Blumensymbolik und eine Blumensprache. Blumen wurde im Mittelalter zu Botschaftern der Gefühle, und Gärten wurden zu Schauplätzen von Liebesgeschichten. Blumengemälde aus dem 17. Jahrhundert sollten beim Betrachter religiöse Besinnung bewirken. Jede Blume oder Blüte hatte eine besondere Bedeutung.
1818 erschien in Frankreich das erste Buch über die Sprache der Blumen. Als Herzensboten wurden sie wiederentdeckt, überbrachten traurige oder frohe Botschaften. Schon damals waren rote Rosen ein Zeichen für Liebe und Zuneigung. Weiße Lilien verkörperten Unschuld und Reinheit. Ein Strauß aus Chrysanthemen, Farn, Geißblatt, Gladiole und Geranie, mit einer leicht überfälligen Rose darin, bedeutete: »Sei nicht so stolz! Lass mich hoffen, denn ich bin noch frei.«
Auch heute sprechen Blumen. Wer weiß, was Natternköpfe, Reiherschnäbel, Fleißige Lieschen, Goldteller, Sonnenbräute, Himmelsleitern und Herzblätter zu sagen haben? Pflückt einen Strauss, der alle Sinne berührt – ein bunter Strauss aus Botanik, Kommunikation, Farbe, Wahrnehmung, Fantasie, Naturwissenschaft, Einfühlung und Neugier, Kunst und Kultur.
Dagmar Arzenbacher
Das im Text erwähnte Märchenbuch:
Hesse, K.: Lass dir erzählen. Bilder von Rose Kuhnlein. Verlag Dr. Karoline Bernheim, 1948
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 05/06 lesen.