Mit unserer neuen Serie möchten wir dazu ermuntern, »Geschichten vom Lernen« zu erzählen. Lerngeschichten. Sie dürfen kurz sein, sie dürfen schlicht sein. Die Kinder werden trotzdem wahrnehmen, dass sie als Person und in ihrem Tun gesehen werden. Sie werden stolz darauf sein und daran wachsen. Wir möchten Ihnen Mut machen, das selbst auszuprobieren.
Was ich mit Paul lernte
Ein Interview mit der Kitaleiterin Carmen Bauer.
Seit wann nutzen Sie die Bildungs- und Lerngeschichten als Instrument der Dokumentation in Ihrer Einrichtung?
Seit acht Jahren. Alle Reutlinger Einrichtungen dokumentieren heute mit Bildungs- und Lerngeschichten. Als die ersten Kitas in der Stadt dafür qualifiziert wurden, meldete sich mein Team sofort. Wir fanden in dem Ansatz so viel von unserer Haltung wieder, die Stärken der Kinder zu stärken.
Sie wählten die Geschichte für Paul aus? Warum diese? Was lieben Sie daran?
Ich mag alle Lerngeschichten. An Paul beeindruckt mich besonders, was er leistet. Der Junge hat sich wochenlang mit dem Thema Kugelbahnen beschäftigt, sie in allen möglichen Varianten gebaut, große, kleine, hat geschaut, wie steil sie sein müssen und probiert, welche Kugel läuft schneller. Schon über diesen Prozess hätte ich eine Ge-schichte schreiben können. Ich entschied mich dafür, einen Moment festzuhalten. An dem Tag baute Paul für die kleineren Kinder eine Kugelbahn. Diese Situation beinhaltet auch einen sozialen Aspekt. Er half ihnen bei etwas, was sie noch nicht können. Paul pustete die Kugel mit einem Trinkhalm durch die Kugelbahn, die Kugel rollte davon und da kam ihm die Idee, sie anzusaugen, um sie wieder auf die Kugelbahn zu befördern. Er hat sehr genau beobachtet, was geschieht und konnte das ausdrücken. Mich freut es zu sehen, was Kinder schaffen! In ihnen ist eine große Kraft und es gibt mir viel, wenn ich beobachten kann, wie unsere Pädagogik dazu beiträgt, dass die Kinder ihr Potenzial entfalten können.
Was war der Anteil der Erzieherin bei diesem Beispiel?
Wir Erzieherinnen setzen Impulse. Nach Reggio zu arbeiten bedeutet, dass ich das Kind in seinen Interessen annehme und begleite. Ich stehe als Gesprächspartnerin zur Verfügung. Wenn mich das Kind etwas fragt, gebe ich ihm die Frage zurück: »Was denkst du darüber?« Dann überlegt das Kind. Es stellt Hypothesen auf und überprüft sie. Dabei passiert viel mehr, als wenn ich ihm meine Antwort geben würde. Ich freue mich sehr, wie die Kinder durch unsere Haltung ins Nachdenken kommen und erklären können, was sie herausfinden.
In dem Fall war es so, dass die Erzieherin nahe der Kugelbahn schon eine Schale mit Strohhalmen hingestellt hatte. Unter dem Motto: Wie wäre es damit?
Auf die Idee muss man erst einmal kommen!
Das hat etwas damit zu tun, wie wir zusammenarbeiten. Bei uns ist es üblich, dass wir über unsere Beobachtungen im Team sprechen: »Was siehst du bei dem Kind? Was du?« Wir diskutieren über seine Lerndispositionen im Team und natürlich reden wir auch mit dem Kind darüber.
Sie haben auch die Zeit für diesen Austausch?
Ja. Natürlich hätten wir gerne mehr Menschen, um gute Arbeit leisten zu können. Wenn jemand krank wird, wird es auch bei uns mit einem guten Personalschlüssel eng. Was ich schätze: Wir haben eine geregelte Vorbereitungszeit. Dafür ist bei den Einrichtungen der Stadt Reutlingen ein Viertel der jeweiligen Arbeitszeit vorgesehen. Bei einer 30-Stunden-Kraft sind das 7,5 Stunden. Wenn jemand eine Beobachtung geschrieben hat, tauschen wir uns in unserer Teamsitzung darüber aus: »Was entdeckst du noch darin?« Das finde ich sehr bereichernd. Durch dieses Gespräch kam die Kollegin auf die Idee, die Strohhalme bereitzustellen, nachdem wir miteinander darüber gesprochen hatten, auf welchen Ebenen Paul bei dem Kugelbahnbau lernt.
Wie hat Paul auf die Geschichte reagiert?
Unsere Kinder freuen sich über die Lerngeschichten. Sie fordern uns auch immer wieder mal auf »Schreibst du mal wieder eine Lerngeschichte für mich!«.
Wie oft bekommen sie eine?
Etwa zweimal im Jahr. Wie bei Reggio üblich, dokumentieren wir unsere Projekte in Form der sprechenden Wände. Auch diese Art zu dokumentieren ist sehr zeitintensiv. Meist konzentrieren wir uns auf eine Aufgabe: Entweder das Projekt zu begleiten und es zu dokumentieren oder eine Lerngeschichte zu schreiben. Dabei gibt es auch bei der Projektarbeit Situationen, die uns geradezu auffordern, dem Kind eine Lerngeschichte zu schreiben. Diese Geschichten sind für uns allerdings nicht nur eine Dokumentation. Es steht eine Philosophie dahinter, die zu leben so wertvoll ist, dass nicht jedes Mal eine Geschichte entstehen muss. Wenn wir die Kinder beim Spiel beobachten, sehen wir, woran sie interessiert sind und gestalten die Räume entsprechend oder geben ihnen Material, damit sie weiter dranbleiben können. Für uns ist dieser gemeinsame Prozess wichtig. Die Lerngeschichte ist nur das I-Tüpfelchen oben drauf. So leben wir es in Reutlingen und unser Träger macht uns auch keine Vorschriften: »Das Kind muss so und so viele Lerngeschichten haben.« Nur Geschichten zu produzieren, wäre für mich nicht der richtige Weg.
Was bewirkten die Bildungs- und Lerngeschichten in den zurückliegenden acht Jahren für Ihre Einrichtung?
Für unser Haus gab die Auseinandersetzung mit den Bildungs- und Lerngeschichten den Ausschlag, uns intensiv mit der Reggio-Philosophie auseinanderzusetzen und als Reggio-Einrichtung zertifizieren zu lassen. Sie halfen uns, genauer zu gucken und uns mit den Kindern über unsere Beobachtungen auszutauschen. »Miteinander entdecken und lernen!«, das ist unser Anspruch und der bewirkt, dass die Kinder mehr ihr Potenzial leben können. Sie fordern uns nicht mehr so sehr als Dienstleister, wie »Kannst du mir mal die Schuhe zubinden?«. Sie fragen klar: »Können wir nicht dazu ein Projekt machen. Das interessiert uns so.« Oder: »Lass uns das angucken!« Die Reggio-Philosophie versteht die Erzieherin als Forscherin. Wir beobachten die Kinder, versuchen ihr Verhalten zu verstehen und uns einzufühlen: »Warum reagiert das Kind so? Warum macht es das so?« Sich solche Fragen zu stellen, macht ganz viel mit uns Erzieherinnen. Wir ergründen nicht nur die Themen der Kinder genauer, sondern auch die Kinder selbst. Dadurch gewinnen wir viel mehr Handlungsmöglichkeiten und sehen, wie sich ein Kind von sich heraus entwickelt, wenn wir ihm das geeignete Umfeld dafür bieten und es nicht bremsen.
Info
Der Kindergarten Gellertstraße in Reutlingen ist eine zweigruppige Einrichtung mit einer Regelbetreuung von 30 Stunden in der Woche. 43 Kinder zwischen zwei und sechs Jahren kommen in die zertifizierte Reggio-Einrichtung, die vor allem das Lernen in Projekten auszeichnet. In ihrer Arbeit verbinden die Erzieherinnen die Ideen von Reggio mit denen der Bildungs- und Lerngeschichten und finden in beiden die gleichen pädagogischen Grundannahmen wieder.
Kontakt
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 06-07/16 lesen.